Von der Verarmung des Geschmacks

Von Meinrad Buholzer

Wenn im trauten Kreis, vornehmlich beim Essen, das Wort „ranzig“ fällt, ist es für mich Zeit, eine Anekdote von Claude Lévi-Strauss aufzutischen. Es war in den 1970-er Jahren, als die Académie française bei der Arbeit an ihrem Wörterbuch beim Buchstaben R anlangte und das ominöse Wort „rance“ zur Sprache kam. Die „Unsterblichen“ wähnten sich einig in der negativen Konnotation des Wortes, bis Lévi-Strauss Einspruch erhob. Der schlechte Ruf des Ranzigen, so der Ethnologe, sei ein westliches Vorurteil. In andern Gesellschaften sei der ranzige Geschmack durchaus eine Qualität (man denke nur an den Yakbutter-Tee in der Mongolei).

In Lévi-Strauss‘ Buch „Traurige Tropen“ findet man Hinweise. Es ist die Rede von der Hygienisierung und Perfektionierung unseres Essens und dem damit verbundenen Verlust an Würze. Auf Martinique besuchte er Rumkellereien, die einen ziemlich schäbigen Eindruck machten und noch Apparate und Methoden aus dem 18. Jahrhundert verwendeten. In Puerto Rico hingegen glänzten die Fabrikationsräume einer Gesellschaft, „welche fast die gesamte Zuckerrohrproduktion monopolisiert hatte, die Behälter aus weissem Email und die Hähne aus blitzendem Chrom“. Und doch schmeckte der Rum aus Martinique, neben den alten hölzernen Bottichen, aus denen die Abfälle niemals entfernt wurden, markig und duftend, während derjenige von Puerto Rico gewöhnlich und grob war. „Ist also die Qualität das Ergebnis eines Mangels an Sauberkeit“, fragte er sich.

Das führte ihn „zu einem Paradoxon der Kultur, deren Zauber wesentlich in den Rückständen und Überresten besteht, die sie mit sich schleppt“. Wir hätten recht, wenn wir rationell sein, die Produktion erhöhen und die Selbstkosten verringern wollten, hält er fest. Aber wir hätten ebenfalls recht, unser Herz an jene Unvollkommenheiten zu hängen, die wir auszumerzen trachten. „Das gesellschaftliche Leben besteht eben darin, all das zu zerstören, was ihm Würze verleiht.“ 

Gedankensprung: Geschieht diese „Hygienisierung“ nicht auch mit unserem Denken? Laufen wir nicht Gefahr, dass wir unser Denken durch Leitplanken und Tabus selbst kolonisieren? Auch dazu findet man bei Lévi-Strauss Erhellendes, im Buch über das nichtdomestizierte Denken („Das wilde Denken“). Darin erörtert er u.a. den botanischen und zoologischen Wortschatz sogenannt primitiver Populationen und entdeckt „die Genauigkeit der Termini, die Aufmerksamkeit für das Detail und die Bemühung um Unterscheidung, die ein enzyklopädisches Wissen kennzeichnen, dessen Strenge und Reichtum dem westlichen wissenschaftlichen Wissen in nichts nachsteht“ (die Lévi-Strauss-Biographin Emmanuelle Loyer). Freilich – und das ist entscheidend – ist es ein Wissen, das nicht auf den unmittelbaren Nutzen ausgerichtet ist, sondern einem rein intellektuellen Interesse dient – „den Anfang einer Ordnung im Universum zu etablieren“. Der Ethnologe ortet hier eine neue Anordnung des Wissens mit Hilfe von „Abfällen und Bruchstücken“ und Improvisation (er verwendet dafür das Wort Bastelei, bricolage).

Widersprüche zweifellos – zwischen rationaler Erkenntnis und bricolage, zwischen klinischer Reinheit und inspirierenden Verwischungen, zwischen sauberer Künstlichkeit und würziger Natürlichkeit usw. Aber muss man dieses Paradox auflösen? Ist es nicht diese Spannung, dieser Widerstreit von Ideen, der eine Gesellschaft am Leben erhält – so wie die Unruh die mechanische Uhr zum Schwingen bringt? In diesem Fall müssten wir unseren zwangsneurotischen Hygienisierungs- und Klassifizierungswahn wohl etwas zurückschrauben und – auch im Denken - wieder mehr Würze zulassen.

26. Oktober 2018

Zur Person:
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.