Auch alte Liebe kann rosten

„Wir sind kein Ehepaar, das nach der Pensionierung immer
zusammensitzt und sich tagaus, tagein das Händchen hält“, sagt Mirja Ernst. Sie ist 65-jährig und wie ihr Mann seit drei Jahren pensioniert. „Wir geniessen den Alltag als Rentnerpaar“, sagt sie. Aufgrund der demografischen Alterung werden sie vielleicht noch 20 bis 30 Jahre zusammenleben. Kann das gut gehen?

Mit der Pensionierung ändern sich oft die Machtverhältnisse im gemeinsamen Alltag. Die Tagesstruktur muss neu definiert, die Balance von Nähe und Distanz neu verhandelt werden. Konflikte sind unvermeidlich. Innert 20 Jahren hat sich die Zahl der Scheidungen im fortgesetzten Alter in der Schweiz fast verdoppelt, von 2800 auf 5200. Zehn Prozent aller Scheidungen betreffen Ehen von mehr als 26 Jahre Dauer. „Scheidungen nach der Silberhochzeit sind heute stark verbreitet“, konstatiert die deutsche Diplompsychologin Marina Schmitt. Experten reden von einem „zweiten Scheidungsgipfel“.

Mann als Sperrgut

In zwei Dritteln aller Fälle ist es die Frau, welche die Initiative zur Trennung ergreift. In Japan, wo sich die Probleme der alternden Gesellschaft vor allen anderen Ländern zeigen, haben sich die Scheidungen im Alter innert zwei Jahrzehnten vervierfacht. Dort gelten pensionierte Männer oft als „Sodaigomi“, als Sperrgut, das den Frauen zu Hause im Wege steht – und dann auf die Strasse gestellt wird. Frauen seien kritischer der Partnerschaft gegenüber, realisierten Probleme stärker und versuchten, diese gemeinsam zu lösen, sagt Guy Bodenmann, ein Experte der Paarforschung. Männer hingegen seien häufig konfliktscheu und gingen den Problemen aus dem Weg. Und wenn dann die Frau plötzlich die Koffer packt, fallen sie aus allen Wolken.

Die „narzisstische Kränkung“ der späten Scheidung macht ältere Männer besonders verletzlich gegenüber den Risiken des Alters, „was sich in Form einer erhöhten Suizidalität, sozialer Isolation, emotionaler Verarmung und massiven Suchtverhaltens zeigt“, wie Insa Fooken, Professorin für Psychologie an der Universität Siegen festhält. Heute betrifft jeder dritte Suizid in der Schweiz einen Rentner (und weit weniger häufig eine Rentnerin). Studien zeigten, so Guy Bodenmann, „dass die Zahl an Fremd- und Selbstgefährdungen, an Unfällen, Krankheiten und Hospitalisationen nach Scheidungen signifikant erhöht sind“. Und wie reagieren die Frauen? „Scheidungen werden von älteren Frauen zunehmend als Option gesehen, um das eigene Leben zu verbessern“, sagt der Gerontologe Hans-Werner Wahl. „Für sie sind Trennungen auch im späteren Leben durchaus denkbar, zumal sie sich das heute ökonomisch eher leisten können.“

Nichts mehr zu sagen

Zwei Drittel der langjährigen Ehen scheitern nicht an offenen Konflikten, sondern an der Entfremdung. Solche Paare hätten sich nichts mehr zu sagen, sagt der Berner Gerontologe Urs Kalbermatten. „Die vertiefte Auseinandersetzung flacht dann ab“. Deshalb sei es dringend nötig, die Gesprächskompetenz der älteren Paare zu steigern, damit sie mit Beziehungskonflikten besser umgehen könnten. Was lange und gute Beziehungen im Alter ausmacht, versucht der Zürcher Altersforscher Mike Martin an der Universität Zürich mit dem Forschungsprojekt „Sinergia Pasez“ (Partnerschaft und Stress: Entwicklung im Zeitverlauf) herauszufinden.* Besonders wichtig sei der gemeinsame Wille, zusammen eine gute Beziehung zu führen, vermutet Martin. Und ebenso wichtig: dass sich beide um körperliche, geistige und soziale Selbständigkeit bemühten. „Nur selbständige Partner können eine Beziehung auch frei gestalten.“

Das wissen auch Mirja und Heinz Ernst. Beide verfügen zum
Beispiel über ein eigenes Arbeitszimmer, und sie haben oft ein eigenes Tagesprogramm. „Wir waren ein Leben lang autonom, warum sollten wir das nach der Pensionierung aufgeben?“, fragt Mirja Ernst. Am Sonntagabend gleichen sich jeweils ihre Agenden ab. Wer ist wann fort? Wer braucht das Auto? Was tun wir gemeinsam? Eigene Aktivitäten seien durchaus erwünscht, sagt die Ehefrau. „So haben wir uns jeden Abend viel zu erzählen.“

Beat Bühlmann

* Die Universität Zürich sucht für das Forschungsprojekt „Sinergia Pasez“ deutschsprachige, insbesondere auch ältere Paare, die seit mindestens einem Jahr zusammen leben. Wer sich interessiert, kann sich über Telefon 044 520 13 94 melden. Oder per E-Mail: pasez@psychologie.uzh.ch 

Weitere Infos auf www.pasez.ch