Schlaflos bis zur Verzweiflung?

Baldrian mit Zucker

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Foto)
Einschlafen schwierig, Durchschlafen selten. Viele ältere Personen klagen über Schlafstörungen. Wie kommt das? Und was kann dagegen helfen - vielleicht Baldrian mit Zucker?

Der Schlaf der Gerechten, wo ist er geblieben? Wer sich im Bekanntenkreis umhört, erfährt von einer grassierenden Schlaflosigkeit. Schwieriges Einschlafen, stundenlanges Wachliegen, müde und zerschlagen am Morgen. Leiden wir im Alter zunehmend unter Schlafstörungen? Eine nationale Fachtagung in Fribourg, organisiert von Gerontologie CH, beleuchtete das Schlafen im Alter aus der interprofessionellen Perspektive der Gerontologie. Fünf Erkenntnisse in knapper Form.

Schlafstörungen? Nicht so einfach zu definieren.
Nach Einschätzung von Julius Popp, Chefarzt Alterspsychiatrie am Universitätsspital Genf, 30 bis 50 Prozent der älteren Bevölkerung an Einschlaf- und Durchschlafstörungen (Insomnie). Genauere Zahlen liegen nicht vor, denn es ist gar nicht so einfach, Schlafstörungen zu definieren. Es sei sehr subjektiv, wer unter Schlaflosigkeit leide, erklärte Andreas Schönenberger, Chefarzt Akutgeriatrie am Spital Tiefenau in Bern, denn es gebe fast keine objektiven Kriterien. Immerhin nannte er drei konkrete Anhaltspunkte: eine Einschlafzeit von mehr als 45 Minuten, mehr als fünf Aufwachphasen in der Nacht und nicht ausgeruht sein am Morgen.

Auch wenn die Zahlen variieren, die Insomnie nimmt mit fortschreitendem Alter zu. Eine Studie bei 330 Patienten einer Allgemeinpraxis ergab, dass die Hälfte der Befragten klagte, unter Schlaflosigkeit zu leiden, ein Viertel litt unter schweren Schlafstörungen. Laut Ulrich Hemmeter, Chefarzt Alters- und Neuropsychiatrie der Psychiatrie St. Gallen Nord, leiden im Alter 13 Prozent unter einer mittleren und schweren Schlafstörung, gegen 50 Prozent klagen über Einschlafprobleme und längeren Wachphasen. Das Paradoxe: Ältere Personen gehen oft früher ins Bett, obschon sie weniger Schlaf brauchen.

Durchschlafen? Vergessen Sie es.
Wie ändert sich denn der Schlaf im Alter? Laut Professor Andreas Schönenberger nimmt der Schlafbedarf im höheren Alter signifikant um zwei Stunden ab, ab 80 Jahren sind sechs Stunden oft ausreichend. „Nicht jeder muss acht Stunden schlafen", betonte auch Chefarzt Ulrich Hemmeter. Wer also um neun Uhr abends bereits zu Bett geht, darf sich nicht wundern, wenn er (oder sie) nach drei Uhr morgens bereits wieder wach ist. Es sei ohnehin eine völlig falsche Erwartung, im Alter durchschlafen zu können. Den durchgehenden Achtstundenschlaf als Normalzustand zu sehen, sei ohnehin ein Mythos, „Wir müssen diese Erwartung unbedingt korrigieren", raten die Experten, das könne bereits zur Entspannung beitragen.

Insbesondere der Tiefschlaf nimmt im Alter deutlich ab, von zwei Stunden auf etwa eine Viertelstunde! Ältere Personen, die sich um alles Mögliche sorgen, fallen in einen leichteren Schlaf und sind somit öfters kurz wach. Allerdings schlägt nachts gegen drei Uhr für alle die „biologische Geisterstunde", wie der Schlafforscher Jürgen Zulley im „Zeit"-Sonderheft Doctor (September 2019) ausführt. Wer um diese Zeit erwacht, wälzt sich unter Umständen bis zu mehreren Stunden schlaflos im Bett. „Etwa drei Stunden nach Mitternacht erreicht der Körper nämlich eine Art Wendepunkt. Während er abends verstärkt das schlafstimulierende Melatonin ausschüttet, ist nun das Hormon Cortisol dran. Es startet das Aufwachprogramm und beendet sanft die ausgeprägte Tiefschlafzeit", so Zulley. Die Körpertemperatur steigt, der Kreislauf kommt in Schwung.

Fernseher im Schlafzimmer? Keine gute Idee.
Was kann Abhilfe schaffen? Wie kann die Schlafeffizienz – schönes Wort der Schlafforscher, es meint das Verhältnis von Schlafzeit und Bettzeit – verbessert werden? Vieles wissen wir eigentlich schon über die Schlafhygiene. Nicht zu viel Alkohol am Abend, viel Bewegung und Betätigung untertags, passende Schlafrituale (siehe Zusatz am Schluss des Artikels). Die alten Heilmittel wie Wechselbäder, Wadenwickel oder feuchte Socken, wie sie bereits 1935 gegen Schlaflosigkeit empfohlen wurden, seien gar nicht so abwegig, sagt die Physiotherapeutin Cristina Staub. Sie richtet ihr Augenmerk bei Schlafstörungen besonders auf die Ordnung im Schlafzimmer: „Bin ich gerne im Bett oder verbringe ich hier viele Stunden beim Grübeln und Nachdenken?"

Cristina Staub empfiehlt, den Wecker ausser Griffweite zu stellen (damit nicht ständig die vorrückende Zeit abzulesen ist). Den Schreibtisch aus dem Schlafzimmer zu bannen, damit keine unerledigten Arbeiten zu sehen sind. Fernseher und andere elektronische Geräte hätten im Schlafzimmer ohnehin nichts zu suchen. Einzig das Hörbuch, das zur Entspannung beitragen könne, würde sie zulassen. Und am Abend natürlich nicht zu viel Kaffee und schon gar keinen Grüntee trinken, der sei noch schlimmer.

Mittagsschlaf? Ok, aber nicht zu lange.
Auch Psychiater Ulrich Hemmeter warnte vor ungesunden Schlafgewohnheiten. Statt sich im Bett schlaflos zu wälzen und über unerledigte Angelegenheiten zu grübeln, solle man sich vorher in den „Grübelstuhl" setzen und die Dinge, die am nächsten Tag zu erledigen seien, auf einen Zettel schreiben – und diesen Zettel dann in einer Schublade versorgen. So könnten bedrängende Gedanken allenfalls gebändigt werden. Auch könnten angenehme Phantasiereisen oder Entspannungsübungen wie Autogenes Training dem Schlaf den Weg weisen. Der Mittagsschlaf sei im Übrigen durchaus sinnvoll, aber er müsse auf maximal 30 Minuten beschränkt sein, um nicht in den Tiefschlaf zu fallen. Generell sei ein möglichst starrer Tag-Nacht-Rhythmus zu empfehlen.

Die Folgen der Insomnie, der starken Schlafstörung, sind geringere kognitive Leistungen. So wird das Lernen spürbar beeinträchtigt, wie Björn Rasch, Professor für kognitive Biopsychologie und Methoden der Universität Freiburg, erklärte. Denn die langsamen Hirnwellen im Tiefschlaf seien entscheidend, um sich neues Wissen im sogenannten „Off-line-learning" fürs Gedächtnis anzueignen. Wer nicht tief schläft, ist demnach handicapiert beim nachhaltigen Speichern. Chronischer Schlafmangel beeinträchtigt nicht nur die Lebensqualität, sondern birgt auch gesundheitliche Gefahren. Das Gedächtnis lässt nach, der Blutdruck steigt, das Risiko von Herzkrankheiten und Diabetes nimmt zu.

Schlafmittel nehmen? Lieber nicht.
Oft ist Insomnie allerdings auf andere chronische Erkrankungen wie Depression, Delir oder Demenz zurückzuführen. Experten schätzen, dass ein Viertel bis zu einem Drittel der Männer und Frauen, bei denen Alzheimer diagnostiziert wird, unter Schlafstörungen leiden. Deshalb müssten zuerst die Ursachen der sekundären Schlafstörungen geklärt und behandelt werden, betonte der Geriater Andreas Schönenberger. „Ein Medikamentencheck ist zwingend, denn falsche oder überdosierte Medikamente können Schlafstörungen verursachen." Soweit wie möglich, sollten Schlafstörungen nicht medikamentös behandelt werden. Und der Schlag sollte schon gar nicht in Selbstmedikation mit Schlaftabletten erzwungen werden.

Er selber setze bei Schlaflosigkeit auf ein altes Hausmittel, das ihm sein Schwiegervater (auch ein Arzt!) empfohlen habe: ein Glas warmes Wasser mit Baldriantropfen oder Orangenblütentee, angereichert mit drei Löffel Zucker, gestand Geriater Andreas Schönenberger „Das wirkt und hat erst noch keine Nebenwirkungen." - 17.9.2019
beat.buehlmann@luzern60plus.ch 

Schlaf gut und träum schön  

Jeden Abend das gleiche Lied
Versuchen Sie das Ende des Tages möglichst bewusst zu erleben. Lassen Sie Ihren Körper und Ihren Geist zur Ruhe kommen, und geben Sie beiden etwas Zeit dafür (also nicht den Fernseher ausschalten und sofort ins Bett fallen). Ziehen Sie eine Grenze zwischen Tag und Nacht. Vielleicht machen Sie sogar jeden Abend vor dem Zubettgehen dasselbe. Die innere Uhr liebt Rituale und Regelmässigkeit. Und der Körper lernt, dass er nun schlafen geht. Jenseits der bewusst gesetzten Grenze sollte es am besten keine schwierigen Gespräche mehr geben – die können bis zum Morgen warten.

Das Bett ist ein beschützter Ort
Versuchen Sie im Schlafzimmer nur das zu machen, was man dort macht, also schlafen, träumen, herumdösen und Sex haben. Was man zum Beispiel nicht macht: arbeiten, essen, Messenger- oder Katastrophen-Nachrichten überfliegen. Der Körper gewöhnt sich so daran, dass das Bett ein sicherer Ort ist, der nur dafür bestimmt ist, dass er sich entspannen kann. Ein Ort der Ruhe und Wärme, auf den er sich freut.

Aus dem neuesten Sonderheft Doctor der Wochenzeitung „Die Zeit", Nr. 3, September 2019