Souverän ist, wer nicht auf den Bus rennt

Von Meinrad Buholzer

Mein Alltag bringt es mit sich, dass ich regelmässig rennenden Menschen begegne. Mit verzerrten Gesichtszügen, ausser Atem, keuchend wie Lokomotiven, ungelenk stapfend, oft hinkend und auf den Felgen, kreuzen sie meinen Weg oder lassen mich hinter sich. Was würde ein Ausserirdischer denken, wenn er ihnen begegnete, überlege ich mir dann. Sich fragen, wo die Sklaventreiber sind? Und Hieronymus Bosch? Der würde sie wohl als Büsser in irgendein Fegefeuer oder gar die Hölle verbannen.

Tatsächlich könnte man, wenn sie sich so abquälen, fragen, für welche Sünden sie büssen. Das hätte eine gewisse Logik, denn wie ich der Vorschau zum Film „Free To Run“ (den anzuschauen ich mich hüten werde) entnehme, ist Sport respektive Joggen so etwas wie eine Ersatzreligion geworden. Klar, dass sie Bussrituale braucht.

Wenn ich mal eine Bemerkung in diese Richtung mache, dann weist mich meine Frau diskret und besonnen darauf hin, dass es auch leicht und mühelos Joggende gibt, die sich äusserst elegant bewegen, denen zuzusehen ein Vergnügen ist. Ich zaudere einen in die Länge gezogenen Moment, simuliere Nachdenklichkeit, um dann etwas Unverständliches zu murmeln, das mit gutem Willen als zustimmendes Einlenken interpretiert werden könnte. (Es hat sich bei uns im Laufe der Jahre eine Art Dialektik von Spruch, Widerspruch und labilem Kompromiss herausgebildet.) Damit ist die Sache für uns abgehakt.

Aber nicht für mich, denn mich fasziniert das Phänomen der Physiognomik. Wahrscheinlich bin ich viel zu früh und unbedarft an Aristoteles graten. In seinen Abhandlungen zur Politik rät er davon ab, Kindern das Flötenspiel beizubringen. Ziemlich dogmatisch findet er, es sei nicht so sehr charakterbildend als berauschend. Aber überzeugt hat mich letztlich ein ganz anderes Argument: Die Göttin Athene habe die Flöte verworfen, so Aristoteles, „weil ihr die Entstellung des Gesichts durch das Spiel der Flöte missfallen habe.“ Das mit der Flöte war mir schnurzegal, ich spielte ja Klavier, aber das ästhetische Argument war grossartig, so dass ich es bei jeder passenden und (vor allem) unpassenden Gelegenheit anbrachte, um mich vor entstellten Gesichtszügen zu bewahren.

Solchen begegnet man nicht nur bei Joggenden. Die Leute rennen zur Arbeit, auf den Bus, auf den Zug, sie preschen vor mit den Autos, am Mittag eilen sie zum Essen und umgehend wieder zur Arbeit. Am Abend nach Hause, zum Tennis, zum Feierabend und anderen angeblichen Vergnügungen. Selbst in den Pausen, selbst am Wochenende. Immer gehetzt, immer gestresst, immer im Schuss – verkrampft und verbissen. Von unsichtbaren Sklavenhaltern getrieben.

Ich habe mir deshalb angewöhnt, niemals auf den Bus oder auf den Zug zu rennen. Ich habe mir die Freiheit herausgenommen, den Fahrplan nicht als Diktat zu akzeptieren, sondern als mehr oder weniger verbindliches Angebot. Und gegebenenfalls zu Fuss zu gehen – falls die Distanzen (ver-)tretbar sind. Zugegeben, ich bin nicht konsequent, habe auch schon – mit entstellten Gesichtszügen – einen kurzen Spurt hingelegt. Aber in der Regel lasse ich den Bus fahren (und freue mich über die gewonnene Zeit). Ich erlebe diese Absage an die Diktatur des Fahrplans als Gewinn an Freiheit und Selbstbestimmung. Und variiere damit das Diktum des stramm rechten Staatsrechtlers Carl Schmitt („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“) auf eine individuelle, unkriegerische Ebene: Souverän ist, wer nicht auf den Bus rennt! – 14. April 2016

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten  – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.