Manoucher (links) und sein Bruder Zubeir, zwei Flüchtlinge aus Afghanistan.

Baba und Mama

Von Silvana Haag-Florin*

Vor drei Jahren ist Manoucher, ein 26-jähriger Afghane, bei der Familie Haag-Florin in Luzern eingezogen. Wenig später kam sein zehn Jahre jüngerer Bruder Zubeir dazu. In ihrem Erfahrungsbericht beschreibt Silvana Haag, was es bedeutet, Eltern von Flüchtlingen zu sein.

Unsere drei erwachsenen Kinder sind vor längerer Zeit ausgezogen. Mein Mann und ich haben uns vor drei Jahren entschieden, dass unser Heim ein vorläufiges Zuhause für einen Flüchtling werden soll. Im Herbst 2016 ist Manoucher, ein 26 jähriger Afghane bei uns eingezogen. Wir haben uns anfänglich in Englisch unterhalten; Deutsch schien uns trotz viel Anstrengung doch sinnvoller, und wir gingen die neue Sprache mit kleinen Schritten an.

Wenige Tage nah Manouchers Einzug bei uns stellte sich heraus, dass ein junger Bub mit gleichem Nachnamen im Ankunftslager Altstätten eingetroffen war. Er sei hier gelandet, weil er auf der vier Monate dauernden Flucht gehört habe, sein Bruder könnte möglicherweise in der Schweiz Asyl beantragt haben. So kam es, dass wir den um zehn Jahre jüngeren Bruder ebenfalls aufnahmen. Wir waren wohl die ersten im Kanton, welche auf privater Basis Emigrierte zu sich nahmen.

Fluchtgeschichten, ganz real

Nun leben wir seit zweieinhalb Jahren in dieser neuen Konstellation. Mit der Aufnahme der Beiden sind zugleich ihre Fluchtgeschichte und die ganze Misere eines im Untergang begriffenen Landes bei uns eingezogen. Was durch die Medien einigermassen ertagbar in unsere Stuben dringt, wird plötzlich ganz real, schmerzt und schreit nach Trost. Viele Stunden verbringen wir mit Zuhören, und wir hoffen, unseren gehetzten „Buben" durch unsere magere Teilnahme zu ein paar Stunden Schlaf zu verhelfen.

Manoucher hat eine Arbeit in seinem Beruf gefunden und lebt seit zwei Jahren unabhängig von Sozialhilfe. Zubeir besucht als 18jähriger das Brückenangebot der Stadt Luzern, nachdem er ein paar Monate in der Einführungsklasse und ein Jahr in die Sekundarschule ging. Er geht gerne und gewissenhaft zur Schule, hat er doch in seinem Heimatland nur während zwei Jahren einen Unterricht besuchen können, in einer Klasse mit gegen 50 Schülern. Die täglichen Überfälle und Bedrohungen durch die Taliban und weiteren Rebellen verunmöglichten es ihm, das Haus zu verlassen. Zubeir wird im August eine Lehre im Spital beginnen; er hat eine Schnupperwoche mit Bravour bestanden.

Folterungen, Erpressungen, Einschüchterungen

Mit der Zeit vernahmen wir immer mehr über die Fluchtgründe: Manouchers knapp überstandene Attentate, die Bedrohungen der restlichen Familie nach seiner Flucht, die Folterungen, Erpressungen und Einschüchterungen, welche die gesamte Familie erdulden musste. Selbst der Jüngste wurde mit vier Jahren mehrere Wochen lang entführt und gegen Lösegeld freigelassen. Dann erst ist die Familie aufgebrochen, ihr ganzes Hab und Gut und zwei in Afghanistan verheiratete Töchter hinter sich lassend.

Was wir laufend im Zusammenleben mit den zwei in einer liberalen Familie aufgewachsenen jungen Männern erfahren, sind ihre grosse Höflichkeit, ihre Ehrerbietung und Zurückhaltung, ihre Besonnenheit und fleissige Hilfsbereitschaft. Wir erfahren, wie unterschiedlich kulturelle Ansichten gelebt werden, wie auch Aberglaube den Alltag prägt, wie hierarchisch die Stellung in der Familie zu sein hat. Ich werde als Frau geachtet, erlebe aber auch „Schonung" in Form von indirekter oder fehlender Kommunikation. Afghanische Frauen erfahren ein Unglück in ihrer Familie als Letzte, weil sie „zu schwach" sind und „ihr Herz bricht".

Familie in alle Welt zerstreut

Die jetzt im Osten der Türkei lebende Familie unserer zwei Jungen - die Eltern und drei weitere Brüder - stehen über WhatsApp in Kontakt mit ihren hier lebenden Söhnen. Für die Eltern ist der Verlust von Heimat und Familie, Habe und Würde unheimlich schwer. Sechs ihrer neun Kinder leben fern von ihnen, zerstreut im Iran, den USA, der Schweiz und Afghanistan. Sie verständigen sich durch ihre Kinder mit den türkischen Behörden. Mit ihren etwa 50 Jahren sind sie wie Greise, vor allem nach all den Widerlichkeiten, die sie erlebt haben und angesichts des Zerfalls ihres Staates und ihrer Gesellschaft.

Viele Hürden der Behörden

Was uns als „Baba und Mama" der zwei jungen Menschen immer wieder überrumpelt hat, sind die vielen Hürden, die wir von amtlicher Seite erfuhren. Wir fragen uns, wie ein Asylant - ohne hartnäckige Unterstützung, wie wir sie aufbringen – sein Leben hier aufbauen können soll. Der Begriff Integration scheint mir wie eine Verpackung aus Seidenpapier: delikat, anfällig für Risse, wenig schützend, quasi gewichtslos – und der Inhalt der Packung ist erst noch nicht klar.

Es gab Zeiten, da waren mein Mann und ich den halben Tag damit beschäftigt, bei verschiedenen Ämtern vorzusprechen und die Situation zu klären, oder Sprachunterricht in verschiedenster Form zu erteilen.

Wir wünschen uns für die beiden redliche Anerkennung, Sicherheit und Akzeptanz, und vor allem endlich, endlich eine positive Entscheidung vom kantonalen Amt für Migration für Manoucher, der vor fünf Jahren fliehen musste und seit dreieinhalb Jahren in der Schweiz lebt. Wie kostbar doch Glück und Friede ist!

* Silvana Haag-Florin, Jahrgang 1949, wohnt im Wesemlin in Luzern. Sie war beruflich als Kindergärtnerin und Musikerin tätig und engagierte sich nach der Pensionierung freiwillig als Lesementorin.