Verweilen war gestern

Von Meinrad Buholzer

Es gibt diese Geschichte vom Weisen (ein Chinese, wie immer), der seinen Garten pflegt und mit der Kanne giesst. Ein Schüler (der es, wie immer, gut meint) plant ihm eine Anlage zur Bewässerung, damit er die Pflanzen nicht mehr mühsam wässern muss. Doch der Alte lehnt das Geschenk ab: Wenn er den Garten giesse, habe er den Überblick, sehe er Gedeihen und Nichtgedeihen, sei er Hüter des Gartens. Die Anlage hingegen entfalte eine Dynamik, die sich der Kontrolle entziehe und unbeabsichtigte Folgen haben könne. Ganz abgesehen von der Minderung des Genusses bei der Gartenpflege.

Diese Haltung liegt quer zu unserer Zivilisation. Trotz stetiger Zunahme von Ethik-Gremien, die als eine Art Anstandsdamen den Exzessen in Wirtschaft und Forschung vorbeugen sollen (per unverbindlicher Empfehlung), herrscht in den einschlägigen Kreisen Konsens: Was man machen kann, das soll man machen! Kommt‘s hart auf hart, heisst es, das sei nicht Sache der Politik (oder der Ethik-Kommissionen), die Wissenschaft brauche Freiraum.

Etwas Ähnliches wie vom Weisen erzählt man sich vom Rad. Dass es nämlich Kulturen gegeben haben soll, die auf das Rad verzichtet hätten – nicht weil es ihnen unbekannt war, sondern weil sie eine unheilvolle Dynamik befürchteten. Das kommt mir in den Sinn, wenn in der Fussgängerzone ein Radfahrer rasant zwischen uns hindurchkurvt. Der Schritt vom Gehen zum Fahren ist eine Zäsur – der Wechsel vom Fussgang zum Fahrrad ungleich grösser als der vom Velo zum Auto. Mit dem Rad wird das Leben dynamisch, Tempo wird entscheidendes Kriterium. Nicht zufällig ist auch die Uhr mit dem Zifferblatt (bis zur Digitalisierung) ein Rad: Der unablässig kreisende Zeiger bedeutete das Ende der verrinnenden Zeit der Sanduhr, der verstreichenden Zeit der Sonnenuhr – jetzt läuft die Zeit und rennt uns davon.

Man schaue jene Kampf-Biker an, für die jedes Mal wenn sie sich in den Sattel schwingen, ein Rennen beginnt, als hänge ihr Leben davon ab. Verkehrsregeln sind dann nur noch unverbindliche Vorschläge. Und wie immer bekommt das der Schwächere zu spüren. Die Bedrohung, die sie vor den ebenfalls rad-getriebenen Intimfeinden, den Automobilisten, empfinden, geben sie nach unten weiter. Fussgänger sind für sie Hindernis, Zumutung, Freiwild – Trottel, die auf Trottoirs trotten. Möglichst scharf preschen sie an ihnen vorbei, um ihnen zu zeigen, wer das Sagen hat. Für mich sieht’s freilich eher nach pubertierendem Imponiergehabe aus.

„Sie haben doch gesehen, dass ich komme“, sagt mir eine wütende Radfahrerin, die in der Fussgängerzone wegen mir ausweichen muss und ins Straucheln gerät. Gegenfrage: „Sie mich nicht?“ In solchen Momenten wünsche ich, wir hätten die Erfindung des Rades verschlafen (auch wenn mir zugleich bewusst wird, dass ich auf vieles, und viel mehr als ich ahne, verzichten müsste). Es ist ein unablässiges Gehetze, um am nächsten Ziel anzukommen, um am nächsten Ziel anzukommen, um am nächsten Ziel anzukommen...

„Rasender Stillstand“ heisst ein Essay des Franzosen Paul Virilio; 30 Jahre alt, aber aktueller denn je. Wir leben in einer Zeit permanenter Beschleunigung, alles muss noch schneller gehen, weil wir sonst, so wird uns suggeriert, stagnieren und zurückfallen, unseren Platz verlieren. Die Zeit, die wir „gewinnen“, müssen wir wiederum nutzbringend verwenden. Und doch, scheint es, kommen wir nicht vom Fleck. Das wäre noch zu verkraften, aber Virilios Diagnose ist vernichtender: Er sieht im rasenden Stillstand eine Gesellschaft, die Zeit und Raum hochtechnologisch beherrscht, aber damit an der Auslöschung ihrer selbst arbeitet.

Es gibt da noch eine Geschichte: Die vom Hirten, der unter dem Baum in Musse das Leben geniesst, als ein Fremder vorbei kommt und ihm vorrechnet, was er mit seiner freien Zeit alles anfangen könnte, um zu Reichtum zu kommen – und dann in Musse das Leben zu geniessen... 

 12.08.2019

Zur Person: 

Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im 

Luzerner Verlag Pro Libro.

meinrad.buholzer@luzern60plus.ch