„Pflegewohnungen sind kein zukunftsträchtiges Modell“

 

In der letzten Arbeitswoche vor ihrer Pensionierung Ende August erfuhr Verena Grüter, die Leiterin der Pflegewohnungen in der Stadt Luzern, dass der Verwaltungsrat von Viva in der Strategiesitzung vom 20./21. August entschieden habe, die geplanten neuen Pflegewohnungen im abl-Neubau am Himmelrich und am Brünighof (Ecke Keller- Brünigstrasse) nicht zu verwirklichen. Der kommunizierte Hauptgrund für diese doch sehr überraschende Kehrtwende: ein schlechter Kostendeckungsgrad der Pflegewohnungen im Jahre 2014. Die Mitarbeitenden erfuhren anfangs September von dieser Negativnachricht.

Publik geworden ist die Viva-Absicht durch einen Vorstoss von Theres Vinatzer  im Grossen Stadtrat. Die SP-Frau argumentiert, die Sozialdirektion der Stadt Luzern habe sich stets zu den Pflegewohnungen bekannt, auch wenn der Kostendeckungsgrad teilweise unter dem gewünschten Rahmen geblieben sei. „Um diesen zu optimieren, waren an Stelle der kleinen Pflegewohnungen am Imfangring und auf Studhalden zwei grössere Einheiten mit je 22 Pflegeplätzen im Himmelrich und an der Keller-Brünigstrasse geplant.“ Im Hinblick auf den demografischen Wandel wäre es höchst bedauerlich, wenn Viva die Pflegewohnungen fallen liesse.

Die Abteilung Heime und Alterssiedlungen der Stadt Luzern (HAS) ist auf Anfang 2015 nach einer Volksabstimmung mit einem Neinstimmenanteil von 38 Prozent in die Gemeinnützige AG Viva überführt worden. Der jetzt veranlasste Planungsstopp für die neuen, grösseren Pflegewohnungen erstaunt aus verschiedenen Gründen.

Vom Stadtrat als wichtige Aufgabe bewertet
Die Pflegewohnungen gehörten zum Aushängeschild der stationären Altersbetreuung in der Stadt Luzern. Im Bericht und Antrag des Stadtrates vom 23.Oktober 2013 zur Schaffung einer gemeinnützigen AG für die Heime und Alterssiedlungen der Stadt Luzern heisst es: „Die stadteigenen Betagtenzentren und Pflegewohnungen nehmen eine wichtige Aufgabe für die gesamtstädtische Pflegeversorgung wahr. Diese Leistungen sollen auch in Zukunft so erhalten bleiben und weiterentwickelt werden…. Damit wird an den Stärken der heutigen städtischen Betagtenzentren und Pflegewohnungen, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten Wahlmöglichkeiten bieten und eine individuelle Lebensgestaltung ermöglichen, angeknüpft.“

„Ein besonderes Schmuckstück“
Im Jahre 2014 feierte die Stadt Luzern mit verschiedenen Aktivitäten 25 Jahre Pflegewohnungen. Beat Demarmels, der damalige Leiter von HAS und heutige Geschäftsleiter von Viva schrieb im Geleitwort zur Jubiläumsschrift: „Die Pflegewohnungen werden, davon bin ich überzeugt, als weiterhin innovativer Betrieb an der Nahtstelle zwischen „ambulant“ und „stationär“, auch in Zukunft ein besonderes Schmuckstück in der Stadt und im neuen Unternehmen Viva Luzern darstellen.“ Im gleichen Text freute sich Demarmels über die positiven Resultate einer Umfrage über die Zufriedenheit der Bewohner und Bewohnerinnen der Pflegewohnungen.

Unter den heutigen Vorzeichen fast etwas überdreht mutet der Leadtext in einer Viva-Broschüre zu den Pflegewohnungen an. Es heisst dort: „Im Ofen ein Apfelkuchen und auf dem Balkon flattert die Wäsche im Wind. Es ist fast wie damals in der eigenen Wohnung. Doch das neue Zuhause gibt zusätzlich Geborgenheit und Sicherheit, denn rund um die Uhr ist Hilfe da.“

Verena Grüter: „Entscheid nicht nachvollziehbar“
Für Verena Grüter, die ehemalige Leiterin der Pflegewohnungen, ist das Vorgehen des Viva Verwaltungsrates nicht nachvollziehbar und „unfair“. „Man hat nur die schlechten Zahlen vom letzten Jahr angeschaut.  Richtig wäre ein Fünfjahresschnitt. Dabei waren wir uns in der Geschäftsleitung von Viva einig: Wir wollen die Pflegewohnungen, aber es braucht die Querfinanzierung durch die Heime.“ Verena Grüter erinnert sich auch an Angehörige, welche die Schaffung von mehr Plätzen in den Pflegewohnungen wünschten. „Und die Zufriedenheitsbefragung im vergangenen Jahre brachte sehr gute Resultate.“ Und dann noch dies: Am 20. August beschloss der Viva-Verwaltungsrat den Planungsstopp, einen Monat später machte er erstmals einen Besuch in den Pflegewohnungen!

Ruedi Meier: „Etwas unglücklich“
Stark betroffen von der Sistierung der Pläne für neue Pflegewohnungen ist die abl mit dem Neubauprojekt Himmelrich. Zwei Pflegewohnungen mit je elf Plätzen waren dort eingeplant. Ruedi Meier, abl-Präsident, früher Sozialdirektor der Stadt Luzern, kann die Kostenüberlegungen von Viva nachvollziehen. „Die Pflegewohnungen sind relativ teuer im Betrieb. Aber eine Stadt von der Grössenordnung von Luzern müsste ein vielfältiges Angebot bereitstellen. Und da gehören Pflegewohnungen dazu.“ Im Himmelrich wäre die Situation optimal gewesen, weil mit der Spitex Synergien möglich gewesen wären, zum Beispiel in der Nachtwache. Was macht die abl jetzt? Ruedi Meier: „Wir schaffen sicher Wohnraum, allenfalls grosse Familienwohnungen oder WGs für alle Generationen. Wir sind am Planen.“

Ruedi Meier erinnert sich an seine Zeit als Sozialdirektor. „Wir haben für die gemeinnützige AG Viva gekämpft. Das war eine grosse Auseinandersetzung. Ich finde es etwas unglücklich, dass Viva jetzt ausgerechnet mit einem Planungsstopp für Pflegewohnungen nach aussen das erste Zeichen von Selbständigkeit setzt“.

Beat Däppeler: „Der Verzicht gehört zur neuen Strategie“
Der Verwaltungsratspräsident von Viva Luzern, Beat Däppeler, kann nachvollziehen, dass die Abkehr von der Idee Pflegewohnungen den Gegnern der Auslagerung der Heime in eine Aktiengesellschaft in die Hände spielen könnte. „Der Verzicht auf den weiteren Ausbau der Pflegewohnungen ist ein Teil der neuen Strategie des Verwaltungsrates, die wir anfangs November vorstellen werden. Wir können die Erstellung der neuen Pflegewohnungen im Himmelrich und Brünighof nicht mehr verantworten.“

Warum diese Konzeptänderung? „Die Pflegewohnungen sind kein zukunftsträchtiges Modell. Bereits heute gestaltet sich die Belegung eher schwierig“, sagt Beat Däppeler. Die Pflegewohnungen sind in den 1990er Jahren entstanden. Sie schafften damals eine persönlichere Atmosphäre und seien wichtig gewesen, um die Heime weiter zu entwickeln. Heute hätten die älteren Menschen darüber hinaus gehende Bedürfnisse. Zum Beispiel grössere Aufenthaltsräume, eine öffentliche Cafeteria und Nischen, um auch ausserhalb des Zimmers etwas für sich zu sein.

Geht es wirklich um konzeptionelle Fragen oder hat die fehlende Kostendeckung den Entscheid bewirkt? „Obwohl die 43 Plätze in den Pflegewohnungen im vergangenen Jahr ein Defizit von rund einer halben Million Franken verursachten, waren die Finanzen nicht der Hauptgrund“, sagt Däppeler. Zudem bleibe das Angebot von total 930 Betten in der Stadt Luzern im stationären Bereich bestehen.

Was die Auslastung der Pflegewohnungen betrifft, bestehen kontroverse Aussagen. Während der Viva-Verwaltungsrat von einer „schwierigen Belegung“ spricht, sagt die frühere Leiterin Verena Grüter, viele Angehörige suchten nach freien Plätzen. Hoffen wir, dass der VR mit seiner neuen Strategie nicht die zentrale Zielsetzung aus den Augen verliert: Es braucht für die pflegebedürftigen Menschen Wahlmöglichkeiten für ihre meistens letzte Lebensstation.
René Regenass – 9. Oktober 2015 / Bild Franca Pedrazetti aus abl-Jahresbericht 2008