Sinngebung der Schwäche

Von Beat Bühlmann

Was ist der Sinn des Lebens im hohen Alter, in einer Lebensphase, in der sich Erfahrungen von körperlicher und vielleicht auch geistiger Fragilität, von Verletzlichkeit in besonders auffälliger Weise manifestieren? Und was macht es mit uns, auf andere angewiesen zu sein? Ausgehend von dieser Fragestellung erörtert der 63-jährige Theologe Heinz Rüegger, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut Neumünster in Zollikerberg ZH, in seinem neuen Buch* das Thema Hochaltrigkeit aus theologischer und ethischer Sicht. Rüegger tut dies nicht auf alarmistische oder dogmatische Weise, er verzichtet bewusst auf eine theologische Überhöhung des langen Lebens. Stattdessen will er die Sinnfrage auf der lebenspraktischen Ebene ansiedeln, bei der es nicht ums Leben im Jenseits, sondern um "ein möglichst gutes, erfülltes und deshalb bejahbares Leben von Menschen mit ihren irdischen Werten" geht.

Das Leben wird ein Leerlauf

In der Schweiz leben derzeit rund 420 000 Frauen und Männer, die 80 Jahre oder älter sind, wie die neusten Zahlen des Bundesamtes für Statistik zeigen; das sind doppelt so viele wie 1990. Die starke demografische Alterung in der Schweiz lässt sich auch an der Zahl der Hundertjährigen ablesen: Während vor 25 Jahren 400 Personen dieses Alter erreichten, waren es letztes Jahr bereits 1562 Personen, davon 1272 Frauen. Nicht alle empfinden ein solch langes Leben als erstrebenswert. So bekannte der Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti, er fühle sich mit 92 Jahren überzählig, und es wäre längst Zeit, dass er hätte sterben dürfen. "So habe auch ich das Gefühl, dass der liebe Gott mich vergessen hat. Das Leben wird ein Leerlauf." Diese "Sinnfinsternis", diese an den üblichen gesellschaftlichen Werten gemessene "Funktionslosigkeit", macht vielen Alten zu schaffen, wie auch die steigende Zahl der begleiteten Suizide belegt. 

Da hilft keine billige Vertröstung durch die Altenseelsorge, wie der Theologe Heinz Rüegger selbstkritisch anmerkt. "Die Ermutigung durch ein empathisch-solidarisches Gegenüber, sich ein Sinndefizit einzugestehen und damit zu leben, dürfte allemal tröstlicher sein als die Vertröstung mit einem Sinnzuspruch, der nicht wirklich trägt." Es sei auch eine Aufgabe christlicher Seelsorge, "Mut zur Sinnlosigkeitstoleranz" zu machen. Denn das hohe Alter, so räumt Rüegger ein, sei die Lebensphase, die mit den meisten Verlusten und Erfahrungen von Grenzen einhergeht, die bisherige Sinnentwürfe erschüttern könnten. Statt das hohe Alter zu glorifizieren, so der Theologe und Gerontologe, gelte es diese Realität "ungeschminkt anzuerkennen". Im übrigen könne ein langes Leben schon gar nicht als "Erweis besonderen göttlichen Segens verstanden werden".

Vertiefte Humanisierung der Gesellschaft

Rüegger sieht Seelsorge in der Begleitung hochaltriger Menschen vornehmlich als Ermutigung: Altsein in einer Haltung des Pro-Aging zu bejahen und sich bewusst darauf einzulassen, um seine Chancen wahrzunehmen, was man eine "ars senescendi", eine Lebenskunst des Alterns nennen könne. Denn es gebe eine "Sinngebung der Schwäche". So sieht der deutsche Gerontologe Andreas Kruse (zum Interview "Hochaltrige Menschen stärker ins Leben einbeziehen") Entwicklungspotenziale, die gerade in der Verletzlichkeit des Lebens erkennbar werden. Dabei ist die Generativität, das Wahrnehmen von Mitverantwortung für andere auch für ältere Menschen von besonderer Bedeutung.

Eine existenzielle Suche nach Sinn vollzieht sich im hohen Alter auch in der Retrospektive auf die eigene Lebensgeschichte. "Es ist für das Wohlbefinden und die Zufriedenheit eines Menschen im höheren Alter massgebend, ob es ihm gelingt, im biografischen Rückblick so etwas wie einen roten Faden zu erkennen, der seinem Leben Kohärenz und Identität vermittelt", schreibt Rüegger. Zu einer hilfreichen Sinnfindung auf dem Weg der Lebensbilanzierung gehöre aber auch die Fähigkeit, Brüche, Diskontinuitäten und Misslungenes zu akzeptieren - und von anderen Hilfe annehmen zu können. "Es ist ein fundamentales Missverständnis zu glauben, Abhängigkeit von anderen sei eine Katastrophe und sinnvolles Leben nur möglich ohne Angewiesensein auf andere."

Ohnehin hat die Frage nach der Sinnhaftigkeit im Alter eine gesellschaftliche Dimension. Noch immer wird die markante Alterung der Bevölkerung vorwiegend als Problem interpretiert. Die Gesellschaft sieht in körperlich geschwächten, fragilen, alternden Menschen weniger Individuen mit Potenzialen, sondern vielmehr eine Belastung für das Kollektiv. Dem setzt Heinz Rüegger eine grundlegende andere Sicht entgegen. Er fragt sich, wie die Gesellschaft die wachsende Gruppe von Hochaltrigen stärker miteinbeziehen und so deren Erfahrungen des Altseins zu einer vertieften Humanisierung beitragen könnten. Sind heute so dominante Werte wie Konsum, Genuss, Unabhängigkeit, Fitness, Geschwindigkeit in unserer überdrehten Leistungsgesellschaft tatsächlich ohne Alternative? Ist der Imperativ des Noch-Mehr, Noch-Schneller, Noch-Besser wirklich zwingend? Oder liesse sich im Umgang mit Menschen im hohen Alter nicht der lebensfreundlichere Weg der Langsamkeit und der Entschleunigung entdecken, wie Heinz Rüegger in seinem anregenden Buch zu bedenken gibt. Des Innehaltens und des ruhigen Zurückblickens, des Masshaltens und des gelassenes Umgangs mit Grenzen, nicht zuletzt diejenigen der eigenen Endlichkeit? - 23.11.2016

* Heinz Rüegger: Vom Sinn im hohen Alter. Eine theologische und ethische Auseinandersetzung. TVZ Theologischer Verlag Zürich, 2016. 172 Seiten. Fr. 29.80