Von der Wohltat der Leere

Von Meinrad Buholzer

Obwohl die Rede vom Nichts mittlerweile ein Gemeinplatz ist und es selbst den unbedarftesten Medien, die unseren Alltag vollquasseln, gelingt, so ganz beiläufig und unreflektiert auch noch quasi-nihilistische Phrasen in ihren verbalen Turnübungen abzusondern – obwohl es also scheint, dass das Nichts seinen Schrecken verloren hat, beherrscht eine seltsame Scheu vor der Leere – horror vacui – unsere Zeit. Wo immer ein zweckfreier Raum überlebt hat, drängt es uns, ihn zu füllen. Sei es der neue Sechseläutenplatz, auf den die Zürcher so stolz sind, sei es eine grosszügige Bahnhofhalle (in Zürich oder Luzern), die uns ein selten gewordenes Raumgefühl vermitteln: Umgehend wird der Raum „möbliert“ mit Installationen unterschiedlichster, bevorzugt aber kommerzieller Art. Oder denken wir an die schöne und seinerzeit mit Geldern des Denkmalschutzes restaurierte Halle der Luzerner Hauptpost. Der Post ist es gelungen, den Raum (wie alle andern Poststellen) zu einem schreienden Ramschladen der billigsten Art umzufunktionieren; das Wort Bazar verbietet sich, weil jeder orientalische Bazar dagegen eine kulturelle und soziale Hochkultur verkörpert. (Warum schreitet eigentlich der Denkmalschutz nicht gegen diese Verschandelung ein?)

Selbstverständlich gehören alle Formen der Intensivnutzung, auch die intensive Landwirtschaft, zu diesem Phänomen. Mit der Angst vor der Leere verbinden sich eine Angst vor dem verpassten Nutzen und eine ruhelose Suche nach Optimierung. Es könnte ja sein, dass uns ein Gewinn entgeht, dass wir eine Möglichkeit des Profites übersehen haben. Beratungsinstitutionen haben dieses Bedürfnis entdeckt und verdienen gutes Geld mit der Suche nach neuen Geldquellen.

Jedoch gab es Zeiten, da liess man Teile des Landes brach liegen, auf dass es sich erholte; da gab es eine gute Stube samt Geschirr, die nur am Sonntag genutzt wurden; da verkehrten Busse, auf denen uns keine Werbebotschaften, die man als visuelle Umweltverschmutzung bezeichnen könnte, „anbrüllten“; da gab es leere Räume, leere Plätze und vieles mehr, das nicht bewirtschaftet wurde (wer das heute noch pflegt, hat zweifellos den „Anschluss“ verloren). Wenn ich daran denke, dann habe ich die – zugestanden nostalgisch geschönte – Erinnerung an eine unaufgeregte, erholsame, besinnliche Zeit.

Deshalb werde ich hellhörig, wenn ich lese, dass der Friedhof im Friedental vermehrt als Erholungsraum genutzt werden soll. Gut, was da bis jetzt läuft – Führungen, Lesungen z.B. – ist kein Grund zur Aufregung. Aber wenn man sich bei der Kirche oder der Stadtgärtnerei Gedanken macht, wie man den Friedhof besser nutzen könnte, dann beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Denn wenn sich Institutionen erst mal daran machen, Konzepte zu erarbeiten, dann lassen sie es nicht bei halben Sachen bewenden. So ein Konzept muss umfassend, ganzheitlich und vor allem öffentlichkeitswirksam werden – sonst könnte man es ja auch lassen. (Man wolle Berührungsängste abbauen, heisst es zum Beispiel. Warum eigentlich? Kann ja sein, dass der Friedhof nicht für jedermann das richtige Biotop ist. Ich habe manchmal auch Berührungsängste und ein paar davon will ich gar nicht ablegen.)

Wenn dann gar, und sei es nur beiläufig, das Wort Event erscheint, dann schrillen bei mir die Alarmglocken. Denn wenn der Event erst mal da ist, dann meistens auch der point of no return. Denn dann hat man Geschmack gefunden, Blut geleckt, und kommt nicht mehr los davon. Und ein Event ohne Kommerz ist undenkbar.

Deshalb möchte ich, dass man das Friedental, abgesehen von der Funktion als Friedhof, möglichst brach lässt, als eventfreie Zone. Dass man ihn in Ruhe lässt – und mit ihm seine Toten!
30. Oktober 2015

 

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.