Warum ich das kleine rote Buch immer noch habe

Von Meinrad Buholzer

In meiner Bibliothek liegt ein kleines Buch mir roter Plastikhülle. Ich hatte die „Worte des Vorsitzenden Mao Tse-Tung“ (auf Bibeldruckpapier!) 1968 in London gekauft. Es war damals „sexy“ (obwohl wir das Wort noch nicht in diesem Sinne verwendeten). Dass es noch vorhanden ist, liegt nicht an seinen über weite Strecken grauenhaft banalen Phrasen. Ich halte es als persönliches Memento.

Denn der Vorsitzende hatte damals im Westen viele Sympathisanten, nicht nur unter den Linken. Auch Carl Schmitt, der Hitler staatsrechtlichen Beistand leistete, lobte Mao. Und der Publizist Sebastian Haffner spürte bei der Mao-Lektüre „eigentümlich elektrische Wirkung“. Dass die grossen Propagandaaufmärsche jenen der Nazis keineswegs nachstanden, wurde ausgeblendet. Dazu Literaturnobelpreisträger Gao Xingjan: „Der Terror hat alle Menschen durchdrehen lassen. Das war sicher auch in Nazi-Deutschland so.“

Als ich das rote Plastik kürzlich wieder in die Hände nahm, spürte ich Unbehagen. War ich ihm, den man heute als Massenmörder bezeichnen kann, auch auf den Leim gekrochen? Mit gemischten Gefühlen griff ich jetzt daher ins Archiv – denn schon früh vom Zwang getrieben, alles schriftlich festzuhalten, hatte ich mich auch über Mao ausgelassen.

Fazit: Ich bin ihm zwar nicht erlegen, fand ihn fragwürdig und wusste auch von desaströsen Auswirkungen seiner Politik. Aber ich sah in ihm auch einen Mann des Geistes, einen Denker, ich attestierte ihm eine „einmalige Leistung“, dem bevölkerungsreichsten Land ein einheitliches Gefüge gegeben, es geeint zu haben. Als grösstes Verdienst hielt ich ihm zugute, „dass alle genügend Nahrung haben“. – „Werch ein Illtum!“ kann man da mit Ernst Jandl sagen.

Zum Beispiel wurde das Lössplateau im Norden Zentralchinas immer wieder von Überschwemmungen heimgesucht. Der Grund dafür, die Entwaldung, war bekannt. Trotzdem ordnete der grosse Vorsitzende eine Anbauschlacht, weitere Rodungen und die Umwandlung der Flächen in Terrassen an. Wie vorauszusehen war, führte jeder Regen zur Erosion. Daraus ergab sich „ständig die Notwendigkeit zur Instandhaltung“ (Charles C. Mann im Buch „Kolumbus‘ Erbe“). Schliesslich brachen die Terrassen an den steilsten Hängen vollständig zusammen – laut dem Geografen Vaclav Smil „eine der grössten Verschwendungen menschlicher Arbeitskraft in der Geschichte“.

Um von der wachsenden Kautschuk-Nachfrage zu profitieren, wurden an der Grenze zu Laos und Myanmar ganze Wälder abgeholzt, um Kautschukbäume anzubauen – obwohl Botaniker davor gewarnt hatten. Tatsächlich wurden sie von Stürmen und Frost vernichtet. Umgehend wurden an den gleichen Stellen auf Befehl des “unfehlbaren“ Vorsitzenden immer wieder die gleichen Kautschukbäume gepflanzt...

Der Sozialismus werde die Natur überwinden, so die maoistische Devise. Dazu passend die Parole: „Tragt die Hügel ab, füllt die Wasserläufe, schafft Ebenen! Zerstört die Wälder, erschliesst das Brachland!“ Das war jene Art von Fortschrittsglauben, der meinte, jahrtausendealte Erfahrungen in den Wind schlagen zu können. (Er macht sich übrigens auch heute wieder bemerkbar, wenn auch aus einer andern Windrichtung).

Die Folgen kennen wir: Hungersnöte kosteten zwischen 20 und 40 Millionen Menschen das Leben; und die Kulturrevolution, die uns damals als eines der bedeutendsten Ereignisse der modernen Zeitgeschichte erschien, führte zu weiteren ein bis zwei Millionen Toten.

Gao Xingjan über Mao: „Er war ein Macht besessener Verrückter.“ Und weil wir leicht vergessen, wie verführbar wir sind – genau deswegen bleibt das kleine rote Buch weiterhin in meinem Regal.
27. April 2019

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.