Politik – auf dem Latrinenweg

Von Meinrad Buholzer

Da haben wir alles schön geordnet und abgelegt. In Schubladen und Regalen. Links und rechts. Oben und unten. Die Bösen und die Guten. Dann plötzlich diese Unübersichtlichkeit. Alles gerät durcheinander. Was schlecht war, ist plötzlich gut. Lechts ist rinks. Und oben unten. Zum Beispiel die Rolle der grossen Konzerne. Wenn sie Druck ausüben auf die Politik, dann gings doch stets um tiefere Steuern und andere Begünstigungen – zu Lasten der Bürger. Aber gerade in dieser Schublade herrscht jetzt ein Durcheinander.

In mehreren amerikanischen Bundesstaaten hat die Rechte auf Druck fundamentalistischer Evangelikaler in letzter Zeit Gesetze durchgebracht, die sich gegen Transsexuelle richten. Indem sie ihnen beispielsweise vorschreiben, jene Toiletten zu benützen, die ihrem Geschlecht bei der Geburt entsprechen. Eine Schikane.

Doch haben sie die Rechnung ohne die grossen Konzerne gemacht. In Mississippi opponieren Unternehmen wie General Electric oder Pepsi Cola dem Gesetz: Es sei schlecht für ihre Angestellten und für das Geschäft. Disney drohte, im Staat Georgia keine Filme mehr zu drehen, wenn der Gouverneur das Gesetz unterzeichne. Und tatsächlich hat der Gouverneur umgehend sein Veto eingelegt. Den gleichen Erfolg hatten Proteste in South Dakota, Indiana und Arkansas; mit Frontkämpfern wie Citigroup, Wells Fargo und Walmart. Hartnäckiger zeigt sich North Carolina, das es auf eine Kraftprobe anlegt. Die den Staat allerdings teuer zu stehen kommen könnte. Über 80 Unternehmen (darunter Apple, Pfizer, Microsoft, Marriott) haben einen Brief an den Gouverneur unterzeichnet; die Deutsche Bank sistierte Pläne zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, Pay Pal verzichtet auf ein neues globales Hauptquartier; Boykottdrohungen gab es von der nationalen Basketballliga; Bruce Springsteen sagte ein Konzert ab. Und so weiter.

Das Vorgehen ist nicht neu. Das Magazin „The New Yorker“ erinnert daran, dass in den 1960-er Jahren Firmen in Dallas (Texas) und Charlotte (North Carolina) sich erfolgreich gegen die Rassentrennung einsetzten. Allerdings waren es damals lokale Unternehmen, die Druck auf die Politik ausübten, heute sind es nationale und internationale Konzerne. An dieser Stelle drängt sich auch ein Hinweis auf jene Pharmakonzerne auf, die den Bundesstaaten neuerdings die Lieferung von Gift für Hinrichtungen verweigern.

Die beliebte Denkschablone „grosse Konzerne (oder gleich die ganze Wirtschaft) = schlecht“ hat also ausgedient. Viele Konzerne werden ihrerseits vom Personal und den Kunden unter Druck gesetzt. Können sich nicht mehr alles erlauben. Beurteilen lassen sie sich – wie Individuen – nur differenziert, von Fall zu Fall; ausschlaggebend ist ihr Handeln im Alltag.

Interessant wird es sein, zu beobachten wie die Populisten reagieren, die die Widersprüche zwischen den Interessen einer liberalen Wirtschaft und den Ressentiments der so genannten „einfachen Leute“ auf ihrem Jahrmarkt zuerst unter einen Hut zaubern und dann wie das Kaninchen verschwinden lassen. Solche Konstellationen – wo Millionäre und Milliardäre vorgeben, das Volk zu vertreten – sind auch hierzulande bekannt. Aber wo politische Zustimmung in devote Verehrung und blinden Jubel umschlägt, da hat der kritische Verstand einen schweren Stand…

PS: Was nun die Toiletten betrifft, habe ich den Eindruck, dass wir es manchmal übertreiben. Die Forderung nach einer dritten Toilette für Transsexuelle würde wohl etliche Kleinbetriebe überfordern. Es geht auch anders: In der Eisenbahn, im Flugzeug und in vielen Restaurants im Ausland sind geschlechtsneutrale Toiletten die Regel und – sofern sie sauber sind – scheinen die Leute diesen Zustand zu akzeptieren.
28. Mai 2016

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.