Über die Bücher

Von Meinrad Buholzer

Ein Buch einfach wegwerfen, wenn man es gelesen hat? Sicher nicht, schreibt Kolumnist Meinrad Buholzer. Denn jedes Buch ist ein Fenster in eine andere Welt.

Da stolpere ich in der Zeitung über ein Interview mit einer Entrümpelungs-Expertin und mache mich mit masochistischer Lust an die Lektüre. Weil bei diesen Leuten zwanghaft das Buch ins Visier gerät – es lässt sich so leicht abschiessen, pardon: entsorgen. O-Ton: „Wer braucht schon so viele Bücher? Wenn man eines gelesen hat, kann man es weggeben. Wie oft haben Sie ein Buch ein zweites Mal gelesen?"

Die Leute haben ja keine Ahnung. Jedes Buch ist ein Fenster in eine andere Welt. Wenn der Blick über das Regal streift, werden Erinnerungen wach, gute und schlechte, aber immerhin Erinnerungen. In einem winzigen Annex zu meiner Bibliothek (ja, so nenne ich das, ganz anachronistisch) ist ein Lavabo, an dem ich mich morgens rasiere (nass natürlich, hin und wieder fliesst Blut, aber: no risk, no fun). Dann fällt der Blick im Spiegel auf die Russen und Osteuropäer in meinem Rücken und die ganze Schwermut von Dostojewski und Konsorten ist da. Kein guter Start in den Tag, meinen wohlmeinende Leute; ich nenne das Bodenhaftung.

Kürzlich las ich eine Wittgenstein-Biographie. Das animierte mich, Bücher von ihm zu holen, die ich in den letzten Jahren nicht zur Hand genommen hatte. Aber sie waren da. Welch ein Glück! (Ich behaupte ja nicht, dass ich ihn kapiert habe.) Desgleichen mit Chateaubriand (der Autor, nicht das Filet). Ein Kollege hatte sich despektierlich über seine „Erinnerungen von jenseits des Grabes" geäussert und mir die Lust an der Lektüre vermiest. So standen sie 25 Jahre ungelesen im Gestell. Jetzt war ihre Zeit gekommen. Sie waren, wo der Autor sich nicht in Pose stellte, besser als erwartet. Und siehe da, ich fand zwei andere Bücher von ihm, die ich bereits gelesen hatte, die nun wieder präsent waren, und ein ungelesenes, das ich mir für später aufspare, für den richtigen Augenblick – kairos nennt man diesen.

Überhaupt die ungelesenen Bücher, Ärgernis aller Entrümpelungs-Experten. Ich denke an Alois Anklin, den ehemaligen Chefredaktor der „Luzerner Neusten Nachrichten": Wieder mal hatte ein Besucher über die vielen Bücher in seinem Büro gestaunt. „Haben sie die alle gelesen?" Anklins Replik: „Sie gehen ja auch nicht in einen Weinkeller und fragen, ob all die Flaschen schon getrunken sind!"

Kürzlich hatten wir beim Apéro Chips vom blauen Mais. Da kam die Rede auf die farbigen Maissorten, die wir hierzulande kaum kennen. Ich erinnerte mich an einen Bildband über die Hopi-Indianer, die diesen Mais der kargen Wüste abtrotzen, und konnte die Bilder zeigen; es sind Jahre vergangen, seit ich dieses Buch in den Händen gehalten habe. Aber wie schön, wieder mal drin zu blättern!

Und so weiter, und so fort, ich könnte unzählige Beispiele nennen. Eine Bibliothek ist eine unerschöpfliche Assoziationsmühle. Aber lassen wir das. Halten wir einfach fest, dass Bücher auch ein haptisches Erlebnis sind, wenn man sie zur Hand nimmt, wobei es auch zur Enttäuschung kommen kann, wenn der Rücken eines Buches beim ersten Gebrauch bricht. Klar gibt es auch Bücher, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind (zum Beispiel Ratgeber – über Bücher-Entsorgung).

Schliesslich sind Bücher, um auch unverbesserliche Utilitaristen anzusprechen, hervorragendes Isolationsmaterial. Eigentlich müssten Bücherwände von Bund, Kanton und Gemeinden subventioniert werden. Aber der vom Kanton derzeit ausgerichtete Förderbeitrag von 40 Franken pro Quadratmeter Wärmedämmung reicht hinten und vorne nicht; man bekommt dafür bestenfalls zwei neue Bücher. Dennoch leiste ich mir weiterhin eine raumfressende Bibliothek, weil... – wie hiess das doch gleich? Ach ja: Weil ich es mir wert bin! - 3.12.2018

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.