So geboren

Von Michael Kuhn

Er ist zuweilen eine Urgewalt. Lauter als ein Überschallflieger. Unser 6-jähriger Sohn beim Erklären, weshalb er sich gegen die Tötung einer grossen Spinne auf dem Schulareal eingesetzt hat, wie sie aussah, wie sich wohl Kinder fühlen würden, wenn eine haushohe Spinne sie einfach zerquetschen würde. Und das mit 180 Dezibel. «Geht das auch leiser?», mahnen die am frühen Morgen noch weniger philosophisch aufgelegten Eltern. «Ich bin halt so geboren.» Eine Antwort, wie ein Donnerschlag. Aber leise ausgesprochen. Wir sollten uns weniger wegen Alltagsdingen in die Haare kriegen, mahnt mein Sohn. «Weisst Du, Papi, wir sind so, wie wir sind. Du möchtest am Morgen länger schlafen, Mami geht früher ins Bett.»

Toleranz. Einfach mal eine Sache stehenlassen. Nicht allem seinen eigenen Stempel aufdrücken und jede Person in ihre Form quetschen wollen. Keine Gleichgültigkeit, sondern das Akzeptieren des Offensichtlichen: Wir sind nicht gleich. «Und das ist gut so», fügt meine 8-jährige Tochter jeweils an. Auch wenn andere Kinder durchaus mal nerven können. «Wir alle sind traurig, fröhlich, ängstlich, und wir alle möchten, dass man uns gern hat.» Sie sieht entsprechend hinter jedem Schläger jemanden, der etwa Schlimmes erlebt hat, dem man nicht nur helfen sollte, sondern muss. Ein vielleicht naiver Gedanke, aber ein wunderschöner allemal.

Keine Vorverurteilung. Nicht vermeintlich Offensichtliches als gegeben nehmen, Menschen nicht in Schubladen stecken, nur, weil es bequem ist. Sich nicht verschliessen, vor allem nicht das eigene Herz. Denn jede Person verdient nicht nur die Chance, sich als Persönlichkeit zu präsentieren, es ist ein Grundrecht. Gut, bei manchen Personen braucht es mehr als eine Chance, bei anderen wären wohl auch zehn nicht genug. Vielleicht würde die elfte aber das Unerwartete zeigen, uns berühren.

«Weshalb sind Menschen gemein zueinander?», fragten uns unsere Kinder vor wenigen Jahren. Inzwischen haben sie verschiedene Antworten selbst erlebt. Die Frage ist am Familientisch dennoch häufig zu hören. Die Antworten ebenso, noch mehr aber ihre Lösungsansätze. Sich nicht aufregen, wenn zum Beispiel ein anderes Kind ständig Beleidigungen ausstösst. «Das macht er nur, weil er Angst hat, dass er ohne weniger akzeptiert wird», sagt meine Tochter. Und nur dann intervenieren, wenn ein Verhalten seinen eigenen Werten deutlich widerspricht. Zum Beispiel, wenn eine Spinne zum Spass getötet werden soll.

«Papi, reg dich nicht auf, spiel besser mit mir Monopoly», riet mir mein Sohn diese Woche, als ich am Abend gebeutelt nach Hause kam. Nach fünf Minuten war jeder Frust verflogen. Und ich habe im Monopoly gewonnen. Also fast.

Noch etwas: Das nächste Mal, wenn ich im Radio den US-Präsidenten höre, bleibe ich gelassen und halte es wie mein Sohn: «Der ist halt so geboren.» - 1.10.2018

Zur Person
Michael Kuhn, geboren 1979 im Kanton Aargau, ist seit Januar 2014 stellvertretender Geschäftsführer Corporate Media bei der Zürcher Kommunikationsagentur Swisscontent. Bis Dezember 2010 war Michael Kuhn Mitglied der Chefredaktion, stv. Ressortleiter und Journalist bei verschiedenen On- und Offline-Publikationen, darunter der «Handelszeitung», der «Luzerner Zeitung» sowie «cashdaily». Danach arbeitete er als Projektleiter und Head of Digital Media für Ringier. Er wohnt mit seiner Partnerin und seinen zwei Kindern in der Stadt Luzern.