Kurde und Schweizer: Ali R. Celik pendelt zwischen zwei Welten.

«Alt werden möchte ich in Luzern»

Er lebt in Luzern und in Istanbul: Ali R. Celik (68) hat die zwei letzten Jahre in der Türkei recherchiert, um die Geschichte seiner Heimatregion aufzuarbeiten. Der ehemalige Politiker der Grünen, der Gefängnis und Folter erlitt, will es auch als AHV-Rentner genau wissen.

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Ali R. Celik ist für ein paar Tage in Luzern. Wir treffen uns im «Petrus», einem Restaurant im Himmelrich. Er hat sein Buch mitgebracht, 372 Seiten stark, auf dem Umschlag steht: ABES (Serefiye) Bölgesi. Tarih, Kültür, Etnisite. Boşnaklar, Ermeniler, Kürdler, Pontos Rumlar, Türkler. Das Buch handelt von der Geschichte seiner Heimatregion, wo bis in die Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts Armenier, Pontos Griechen, kurdische Aleviten und Türken zusammenlebten - und dann brutal auseinandergetrieben wurden. Das Buch handelt von der Geschichte, der Kultur und der Ethnie dieser 34 Dörfer am nordöstlichen Rand von Zentralanatolien der Türkei.

Gefängnis, Folter, Untergrund
«Die Geschichten aus dieser fürchterlichen Zeit, die uns die alten Männer zu Hause erzählten, habe ich schon als kleines Kind immer wieder gehört», sagt Ali R. Celik. Diese Erzählungen hätten seine politische Biografie stark geprägt. «Nach meiner Pensionierung wollte ich wissen, was in dieser Region wirklich passiert ist.» Denn die Geschichte dieser Dörfer hat keiner aufgeschrieben, «so ist auch kein historisches Gedächtnis vorhanden», wie Celik sagt. Zusammen mit einem Kollegen hat er während zwei Jahren die damaligen Ereignisse, deren Quellen erst seit 2009 zugänglich sind, in der Türkei sowie im Kleinasiatischen Forschungszentrum (Archiv) in Athen recherchiert. Hundert Personen haben sie befragt, die Quellen im Anhang machen allein zehn Seiten aus. Das Buch findet viel Beachtung, die erste Auflage, letztes Jahr in tausend Exemplaren gedruckt, ist bereits verkauft.

Von seiner eigenen Geschichte macht er nicht viel Aufhebens. Er ist in Zentralanatolien aufgewachsen und von kurdisch-alevitischer Abstammung. Während viereinhalb Jahren (1977-1982) war er Gemeindevorsteher in seinem Heimatdorf Cevirmehan, doch nach dem Militärputsch von 1980 wurde er vom autoritären Regime verfolgt. Er war mehrmals in Untersuchungshaft, kam 1982 aus politischen Gründen für sieben Monate ins Gefängnis, wurde gefoltert und lebte für anderthalb Jahren in der Türkei im Untergrund. «Ich kämpfte für die Gerechtigkeit und wusste von Anfang an, welchen Preis ich dafür zahlen würde.» Am Schlimmsten sei für ihn aber nicht die Folter gewesen, sondern mitzuerleben, wie sein 80-jähriger Grossvater, der ihn bei seiner Verhaftung schützen wollte, brutal zusammengeschlagen worden sei. Im April 1985 kam Ali R. Celik als Asylsuchender in die Schweiz.

Maler und Student 
Er lernte Deutsch, mit der ihm eigenen Beharrlichkeit, «denn ich musste verstehen lernen, wie diese Gesellschaft funktioniert». Er arbeitete zehn Jahre als Maler, dann in der Aids-Prävention und absolvierte berufsbegleitend die Ausbildung zum Sozialarbeiter, studierte an der Universität Luzern Soziologie, mit Geschichte und Philosophie im Nebenfach. Ali R. Celik ist kein intellektueller Theoretiker. Er denkt in gesellschaftlichen Zusammenhängen, engagierte sich dort, wo die konkreten Lebensverhältnisse verbessert werden müssen. Zum Beispiel im SAH Zentralschweiz (Arbeiterhilfswerk), wo er sich um die sprachliche, berufliche und soziokulturelle Integration von anerkannten Flüchtlingen kümmerte. Leben und Politik gehören bei ihm zusammen. So schuf er sich viele persönliche Kontakte. Kaum war er in Luzern, verkehrte er in der damaligen Alternativbeiz Widder. Für die Grüne Partei Luzern war er acht Jahre im Kantonalen Vorstand, fünf Jahre im städtischen Parlament (Mitglied der Sozialkommission), danach zweieinhalb Jahre im Kantonsrat (in der Bildungs- und Kulturkommission), bevor er jüngeren Kräften Platz machte.

Ali R. Celik ist ein Muster an Integration, eine bessere Empfehlung für eine Einbürgerung lässt sich kaum denken. Doch Ali R. Celik, der sich den Mund nicht verbieten lässt, musste elf Jahre auf sein Staatsbürgerschaftsverfahren warten – erst nach mehrfachen Beschwerden und nach dem Gang ans Bundesgericht erhielt er 2007 in der Stadt Luzern das Schweizer Bürgerrecht. Das hat ihm zu schaffen gemacht, damals hätte er die Schweiz, die er als willkürlich erlebt hat, beinahe verlassen. «Es gibt in der schweizerischen Bevölkerung starke Vorbehalte und Vorurteile gegenüber den Zugezogenen», sagt Celik. «Viele sind nicht bereit, uns Vertrauen zu schenken und verfolgen nur die Ausgrenzung.»

Engagement in der Kooperative
Ali R. Celik hat seinen Wohnsitz in Luzern, doch einen Grossteil des Jahres verbringt er in Istanbul. Wo ist er zu Hause? Welches ist seine Heimat? «Es gibt für mich keine einzige Heimat, weder die Schweiz noch die Türkei», sagt er. «Viel wichtiger ist für mich, in welchem sozialen Milieu ich lebe.» Was unterscheidet den Alltag in der Türkei vom Alltag in der Schweiz? Die Türkei sei in einer politischen Schieflage, sagt Celik. Willkür statt Rechtsstaat, Umweltzerstörung, keine Partizipation, keine soziale Sicherheit. «Der Bürger hat kein Vertrauen in den Staat, kann nicht auf eine materielle Sicherheit zählen.» 

Als seine Mutter vor sieben Jahren zu Hause in der Türkei schwer erkrankte und ins Spital eingewiesen werden musste, war das eine Katastrophe. «In diesem Land krank zu werden, kann man sich gar nicht leisten.» Eine staatliche flächendeckende Altersvorsorge ist nicht existent, betagte Eltern in ein Heim zu geben, sei ohnehin für viele Menschen undenkbar. «Das ist ein Tabu, jede Familie muss für sich selber sorgen.»

Nötig sei eine starke Zivilgesellschaft. So engagiert sich Celik in einer Kooperative in Istanbul, die regionale natürliche Lebensmittelprodukte im Stadtviertel verkauft – und sich gleichzeitig als linke politische Bewegung versteht. Dieses Engagement ist nicht ohne Risiko, wie Ali R. Celik durchaus bewusst ist. «Wenn sie jemand verhaften wollen, finden sie immer einen Grund.» 

Und wo ist er jetzt zu Hause? «Alt werden möchte ich in Luzern», sagt Ali R. Celik ohne zu zögern. «Hier habe ich drei Viertel meines Erwachsenenlebens verbracht.»

19. März 2020 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch