"Elektrische Velos helfen älteren Menschen, ihre Mobilität vollumfänglich zu leben"

Das Gespräch mit Jörg Beckmann, Direktor der Mobilitätsakademie, führte Beat Bühlmann.

Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für die soziale Teilhabe. Was kann die Mobilität im Alter behindern?
„Reifere“ Mobilität ist sicherlich oftmals auch eine „eingeschränktere“ Mobilität. Das sehen wir beispielsweise bei den Tagesdistanzen von Menschen über 65. Sie liegen deutlich unter denjenigen jüngerer Bevölkerungsgruppen. Mobilitäts-einschränkungen können dabei individueller Natur sein, also durch eine verringerte körperliche Leistungsfähigkeit hervorgerufen sein, oder sie sind systemisch bedingt, d.h. durch Zugangsbarrieren zu unterschiedlichen Verkehrsträgern verursacht. In beiden Fällen aber gibt es Lösungen, die entweder als technische oder soziale Innovationen daherkommen und älteren Menschen helfen ihre Mobilität vollumfänglich zu leben - von elektrischen Velos
bis hin zu freiwilligen Fahrdiensten.  

Wenn der Führerausweisentzug droht, reagieren ältere Frauen und Männer oft hilflos oder wütend. Ist im Alter ein Leben ohne Auto nicht möglich?
In jedem Alter ist ein Leben ohne Auto möglich – so es denn auf Freiwilligkeit beruht. Niemand der noch Autofahren kann oder möchte sollte gezwungen werden seinen Wagen stehen zu lassen, es sei denn er oder sie gefährdet andere oder sich selbst. Auch im Alter muss gewährleistet sein, dass Menschen die Wahl haben zwischen unterschiedlichen Verkehrsträgern, denn diese Wahlfreiheit ist ein ganz wesentlicher Aspekt unserer modernen Mobilität. Eine einseitige Abhängigkeit gegenüber nur einem Verkehrsträger geht an den Bedürfnissen älterer Menschen vorbei und schränkt die individuellen Mobilitätsspielräume unangemessen ein.

Verkehr ist – insbesondere in Städten – zunehmend hektisch und unübersichtlich. Was bedeutet das für die Altersmobilität?
Gerade in den Städten wird in den kommenden Jahren der Anteil älterer Menschen weiter wachsen. Das stellt die Verkehrsplanung vor neue Herausforderungen. Der Verkehr muss für jeden und jede „lesbar“ bleiben, d.h. je komplexer das System wird, desto mehr müssen wir versuchen es zu vereinfachen. Ob sich die kontinuierliche Beschleunigung des Alltagslebens in modernen Gesellschaften wirklich einmal bremsen oder gar umkehren lässt, bleibt aus kultursoziologischer Sicht fraglich, obgleich manchmal wünschenswert. Trotzdem: die Qualität der Mobilität einer zukunftsfähigen städtischen Gemeinschaft misst sich immer auch an der Verkehrsteilhabe ihrer schwächsten Mitglieder.

Für die ältere Bevölkerung ist vor allem der Nahverkehr im Quartier von grosser Bedeutung. Was heisst das für die Mobilitätsangebote in der Stadt?
Lokale Aktionsräume erfüllen wichtige Funktionen der sozialen Teilhabe. Sie helfen, mögliche altersbedingte Vereinsamungsrisiken zu minimieren und sind eine Grundvoraus-setzung zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen innerhalb der Familie und des Freundeskreises. Dementsprechend fördert ein seniorengerechtes Verkehrssystem in erster Linie die Nah- bzw. Mikromobilität und hilft so die Qualität eines lokalen Gemeinschaftslebens im Wohnumfeld zu steigern. Wichtiger als effiziente Fernverbindungen sind leicht zugängliche Tür-zu-Tür Angebote für Seniorinnen und Senioren in der Region.

Auch der Langsamverkehr hat durchaus seine Tücken. Die Velos auf Trottoirs oder in Fussgängerzonen sind vielerorts das grösste Ärgernis. Was tun? 
Regeln sind nur so erfolgreich, wie die Menschen, die sie befolgen. Das soll heissen, dass unser Regelwerk gar nicht mit noch mehr Paragraphen gefüllt werden muss, um ein mögliche Konflikte zwischen einzelnen Verkehrsteilnehmern zu vermeiden. Wer auf dem Trottoir mit dem Velo unterwegs ist, gehört da schlichtweg nicht hin. Wer in einer Begegnungszone auf dem Velo keine Rücksicht nimmt, läuft Gefahr sich und andere zu verletzten. Wer das nicht versteht, sollte entsprechend gebusst werden. Wir alle sollten uns auf unseren Wegen öfter einmal fragen, ob das eigene Verkehrsverhalten als Vorbild für gesamtgesellschaftliche Mobilitätskultur wirklich passt – egal in welchem Alter er oder sie ist.   

Die älteren Menschen laufen Gefahr, an den Rändern des "globalen Dorfes" isoliert zu werden, heisst es in einem Ihrer Grundsätze. Mit welchen Folgen?
In einer Gesellschaft, in der ein überliefertes und fest verortetes Sozialgefüge zunehmend durch neue, entlokalisierte Formen des Miteinanders, z. B. innerhalb internetbasierter sozialer Netzwerke, ersetzt werden, laufen ältere Menschen Gefahr, an den Rändern des „globalen Dorfes“ isoliert zu werden. Mit der neuen Netzwerk-geographie entstehen raumgreifendere Mobilitätsbiographien, die unter Umständen im Alter nicht mehr gelebt werden können, da Mann oder Frau schlichtweg nicht mehr regelmässig über 1000 Kilometer reisen kann, um die Freunde und Freundinnen zu treffen. Auch wenn in den kommenden Jahrzehnten die Internetnutzung immer mehr zu einem integralen Bestandteil des 3. Lebensalters wird, sollten wir uns darüber im Klaren sein - und vielleicht entsprechend vorsorgen -, dass wir im Alter nicht auf unsere ganz realen Nachbarn und das Leben im Quartier verzichten werden wollen.

Alle beklagen sich über die Beschleunigung im Alltag. Könnten die Alten nicht dazu beitragen, dass wir alle etwas entschleunigt durchs Leben gehen?
Altersbedingte „Immobilitätsphänomene“ im letzten Teil des Lebens geben möglicherweise Anlass, die Bewertung von Mobilität und Immobilität als zwei Seiten der selben Medaille neu zu hinterfragen. Unser geltendes Gesellschaftssystem glorifiziert die uneingeschränkte Mobilität von Personen und Gütern, oft ohne ihre Notwendigkeit in Frage zu stellen. Lässt sich eine künftige Gesellschaft denken, in der vermiedene Mobilität und damit die Immobilität einen Wert an sich darstellt? Muss in Zukunft wirklich jede Reise auch gemacht werden, die gemacht werden kann? Oder gelingt es uns mit weniger Verkehr unter Umständen ein Gesellschaftsmodell zu verwirklichen, das bei gleichbleibendem Wohlstand mit weniger Mobilität auskommt?
Mit dem Eintritt in eine neue mobilitätsverändernde Lebensphase und dem gleichzeitigen Wunsch nach mehr Berücksichtigung der eigenen, seniorenspezifischen Mobilitätsbedürfnisse, bietet sich also gerade für ältere Verkehrsteilnehmer auch die Chance, durch einen ökologisch, sozial und wirtschaftlich nachhaltigeren Umgang mit ihrer Mobilität, die Lebensgrundlagen künftiger Generationen zu sichern. Senioren können so zu den Pionieren einer besseren Mobilität von morgen werden!
14. Mai 2012

Die Mobilitätsakademie wurde 2008 vom TCS gegründet. Sie beschäftigt sich über die Verbandsgrenzen hinweg mit der Fragen der Zukunft der Mobilität. www.mobilityacademy.ch