Marie-Claire Zingg: «Um allein zufrieden zu sein, hilft es ganz allgemein, allzu hohe Ansprüche an sich und an die anderen runterzuschrauben.» Foto: Eva Holz.

«Viele allein Lebende gewinnen an Souveränität» 

Das Gespräch mit Marie-Claire Zingg führte Eva Holz. 

Marie-Claire Zingg arbeitet in Luzern als Psychologin und Psychotherapeutin. Die verheiratete Mutter dreier Kinder hat in ihrer 40-jährigen Tätigkeit viele Menschen begleitet, welche Trennung oder Tod verarbeiten mussten. Im Gespräch mit Eva Holz zeigt sie sich überzeugt, dass auch Alleinleben Erfüllung bringt. 

Sind Sie in Ihrer Praxis mit dem Thema Alleinleben und Alleinsein konfrontiert? 

Ja, das gibt es immer wieder. Es wenden sich beispielsweise Menschen an mich, die nach dem Verlust des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin mit ihrer Trauerarbeit nicht allein klar kommen und die gut gemeinten Ratschläge von Freunden nicht ausreichen.

Macht es bei der Verarbeitung einen Unterschied, ob man jemanden aufgrund einer Trennung oder wegen Todesfalles verloren hat?  

Der Schmerz des Verlustes ist meistens in beiden Fällen gross. Dennoch möchte ich den Unterschied so festhalten: Der Tod bedeutet einen endgültigen Abschied. Die Trauer ist im Vordergrund. Im Verlauf entstehen unterschiedliche Gefühle wie  Dankbarkeit, Idealisierung, aber auch Wut, Ohnmacht, Verzweiflung. Bei einer Trennung oder Scheidung kann es dagegen emotional zu einer Art Gewitter oder Orkan  kommen, verbunden mit Gefühlen von Enttäuschung, Verletzung, ja gar Hass. Entsprechend gilt es bei einer Scheidung vielmehr das Vergangene aufzuarbeiten, um den inneren Frieden und die eigenen Ressourcen zu finden, um dann alleine zurechtzukommen. 

Warum fällt es den einen leichter als anderen, im Alltag alleine wieder Fuss zu fassen? 

Da spielen verschiedene Aspekte eine Rolle. Interessiert sich die betroffene Person dafür, gewissen Dingen der Vergangenheit auf die Spur zu kommen, oder will jemand lieber nicht zurückblicken? Das ist sehr individuell. Grundsätzlich lohnt es sich, die Vergangenheit kritisch, auch selbstkritisch, zu betrachten. Ein Beispiel dazu: Eine 80-jährige Frau kam zu mir in die Sprechstunde um herauszufinden, warum sie in ihrem Leben zweimal eine Scheidung durchmachen musste. Auf das Lebensende hin wollte sie diesen «Knopf», wie sie sagte,  lösen. Nachdem die Seniorin sich mit beiden Ex-Männern getroffen und  intensiv ausgetauscht hatte, ging es ihr viel besser, weil sie nun bestimmte problematische Muster in ihrem Leben verstand. Als Therapeutin konnte ich sie auf diesem Weg begleiten, ohne direkt als Mediatorin zu wirken. Natürlich helfen solche Prozesse auch 50- oder 60-Jährigen.  

Den Alltag allein bewältigen: Das betrifft nicht nur Geschiedene und Verwitwete, sondern auch Menschen, die bewusst ein Leben als Single führen. Kann man allein glücklich sein? 

Man kann sehr wohl ohne Partner oder Partnerin an der Seite gut durchs Leben gehen und eine Zufriedenheit im Beruf und Privatleben generieren. Menschen, die entschieden haben, so ihren Alltag zu bewältigen, pflegen häufig ein erhöhtes Beziehungsnetz. Um zufrieden zu sein mit sich, hilft es ganz allgemein, allzu hohe Ansprüche an sich und an die anderen runterzuschrauben. Aus meiner Erfahrung weiss ich: Viele allein Lebende gewinnen an Souveränität. Es ist wichtig zu wissen, wo und wann man sich gut fühlt und das Leben als Single danach auszurichten. Was nicht heisst, nonstop Glücksgefühle zu empfinden. Aber das gibt es auch im Paarleben nicht.  

Was tun, wenn man das alles nicht schafft und mit sich hadert? Wann kann Alleinsein zu Einsamkeit führen?   

Rein begrifflich besteht da ein markanter Unterschied. Allein leben heisst zunächst einmal, nicht in einer Partnerschaft zu leben. Das ist ein äusserer Zustand oder Rahmen, der verschiedenste Hintergründe haben kann. Demgegenüber bedeutet Einsamkeit ein innerer Zustand, ein Gefühl, das belastet. Wie vorher erwähnt, können Alleinstehende in vielen Bereichen «aufgehen» und auch ohne Partnerbeziehung erfüllt sein. Wer hingegen einsam ist, fühlt sich orientierungslos, ohne Kraft und Energie, etwas anzureissen. Dauert dieser Zustand längere Zeit an, kann dies in eine Depression führen. In diesem Fall ist es sinnvoll, sich bei einer Fachperson Hilfe zu holen. Ein Gespräch kann vieles ankurbeln. Plötzlich kommt man auf das Kernthema, was für die betroffene Person eine grosse Erlösung bedeutet kann. Es ist möglich, einen Weg aus der Einsamkeit und damit wieder mehr Freude im Alltag zu finden. 

23.07.2021 - eva.holz@luzern60plus.ch