Sibylle Jean-Petit-Matile leitet das Hospiz Zentralschweiz. Sie hofft, die Tür schon bald wieder für Gäste und Besucher öffnen zu können.

«Das Leben ganz leben»

«Die gute Auslastung belegt das grosse Bedürfnis nach der Institution», erklärt Sibylle Jean-Petit-Matile. Sie hat sich als Mit-Initiantin in sechs intensiven Jahren mit viel Herzblut für den Aufbau des Hospizes Zentralschweiz eingesetzt und prägt den Betrieb wesentlich.

Gespräch Monika Fischer (Text und Bild)

Luzern60plus: Was war ihre Motivation, ihre Praxis als Hausärztin aufzugeben und sich mit voller Kraft für den Aufbau eines Hospizes in der Zentralschweiz einzusetzen? 

Sibylle Jean-Petit-Matile: Als Ärztin war es mir schon immer wichtig, den Menschen als Ganzes zu betrachten und ihn vom ersten bis zum letzten Atemzug gut zu begleiten. Am Lebensende ist neben einer guten pflegerischen Betreuung und medizinischen Massnahmen die seelsorgerische, spirituelle und soziale Unterstützung besonders wichtig. Dies alles fliesst in der Palliative Care zusammen. Es ist wunderbar, wenn es uns in der Begleitung gelingt, alle diese Aspekte zu vereinen. 

Dank Spenden ist der Aufenthalt im Hospiz für alle möglich

Dadurch wird der Personalaufwand grösser, das Angebot teurer. Ist denn ein Platz im Hospiz für alle unheilbar kranken Menschen möglich?

Wir nehmen vom Obdachlosen bis zum Villenbesitzer alle Menschen auf, die unheilbar krank sind, wenn das Lebensende absehbar ist und keine Fremd- und Selbstgefährdung besteht. Die Finanzen sind für uns das letzte Kriterium. Es ist allerdings oft anspruchsvoll, die Finanzierung sicherzustellen, alle müssen sich daran beteiligen. Vom Status her sind wir ein Pflegeheim. Da die Finanzierung durch Patienten, Krankenkasse und Gemeinde/Kanton bei weitem nicht ausreicht, ist unser Betrieb auf Spenden angewiesen. Das Fundraising ist eine aufwendige Arbeit. Deshalb haben wir den Dachverband Hospize Schweiz gegründet und arbeiten an einem angepassten Finanzierungsmodell für die Hospize. 

«Das Leben ganz leben» heisst Ihre Philosophie. Wie läuft der Alltag für einen Patienten und seine Angehörigen im Hospiz ab?

Gemäss unserem Leitsatz ganz normal, fast wie daheim - so, wie es seinen Wünschen und seinem Zustand entspricht. Natürlich geht es zuerst darum, belastende Symptome zu lindern. 

Doch haben wir kein Konstrukt, sondern orientieren uns an jedem einzelnen Menschen und seinen Bedürfnissen. Es gibt Patientinnen, die gerne am Alltag teilnehmen und mit uns essen. Andere ziehen sich lieber in ihr Zimmer zurück. Mobile Patienten möchten vielleicht gerne mit Begleitung der Freiwilligen draussen spazieren oder etwas einkaufen. Oder sie sitzen im Innenhof, in der Bibliothek und plaudern mit den Angehörigen, die jederzeit willkommen sind. 

Wie kommen die Mitarbeitenden in Kontakt mit den Patientinnen?

Nach dem Eintritt stellen sich die Mitarbeitenden der Pflege, der Seelsorge, der Spiritual Care und die Freiwilligen den Patienten vor. Aus den persönlichen Kontakten entstehen erste Gespräche, auch mit den Angehörigen, deren Begleitung uns sehr wichtig ist. Alles verläuft sehr individuell, kein Tag ist wie der andere. Deshalb ist eine gute Kommunikation im Team wichtig. Wir wählen die Mitarbeitenden sorgfältig aus den vielen Bewerbungen aus und kennen uns gegenseitig. So können wir die Ressourcen entsprechend einsetzen. Unerlässlich sind natürlich die Teamsitzungen, Fallgespräche und der multiprofessionelle Rapport jede Woche. Ich bin glücklich über unser wunderbares Team.  

Das Hospiz muss nicht die letzte Station sein

Sie haben neben dem klassischen Hospiz, wo der Mensch bis zum Lebensende wohnt, auch andere Angebote. 

Ja, denn das Hospiz ist keine Sackgasse, sondern ein Kreisel. Es muss nicht unbedingt die letzte Station für einen Menschen sein. Bei unserem Tages- und beim Entlastungsangebot können sich die Patienten bei uns erholen und gehen danach wieder nach Hause. Wir bieten auch für alle Interessierten ein umfassendes Beratungsgespräch über die Möglichkeiten der Palliative Care, ist es doch wichtig, dass diese möglichst früh einsetzen kann. 

Wo liegt der Unterschied zwischen dem Hospiz und einem Pflegeheim?

Wir haben für die Pflege doppelt so viele Stellenprozente pro Bett zur Verfügung wie ein klassisches Pflegeheim. Vor allem gehen junge und jüngere Menschen zum Sterben nicht gerne in ein Heim. Deshalb braucht es verschiedene Angebote. Wir stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Vielmehr geht es darum, die Synergien zum Wohl der Patientinnen zu nutzen.

Was für Patienten und Patientinnen haben sie bisher wie lange betreut? 

Es sind zur Hälfte Frauen und Männer zwischen 37 und 95 Jahren, vorwiegend mit Krebs oder mit neurologischen und kardiologischen Erkrankungen. Die Aufenthaltsdauer betrug im Schnitt 24 Tage und bewegte sich zwischen wenigen Stunden bis sieben Monate.

Wie hat die Pandemie den Betrieb beeinflusst?

Eigentlich nicht gross. Wir nehmen keine akut kranken Covid-Patienten auf und halten uns an die Schutzmassnahmen. Bei den Mitarbeitenden und Besuchern wird am Eingang die Temperatur gemessen und sie füllen einen Zettel mit ihren Angaben aus. Die Angehörigen können nicht wie sonst üblich mit uns am Tisch im Esszimmer essen, sondern müssen separiert oder im Zimmer des Patienten das Essen zu sich nehmen.  

Wichtig ist die Erfahrung menschlicher Gemeinschaft

Ist es für Sie und ihr Team nicht sehr belastend, immer wieder Abschied nehmen zu müssen? 

Die Menschen, die bei uns arbeiten, haben sich mit Sterben und Tod auseinandergesetzt und den eigenen Standpunkt ausgelotet. Sterben gehört zum Leben. Es ist nötig, damit immer wieder Neues entstehen kann. Es geht darum, in den Zyklus der Verwandlung einzuwilligen und das Sterben als etwas Normales, Selbstverständliches zu sehen. Natürlich kann es furchtbar traurig sein, wenn eine junge Mutter von kleinen Kindern wegstirbt. Umso wichtiger ist es, dass die ganze Familie nicht allein gelassen, sondern gut aufgehoben ist. Es geht um die Erfahrung menschlicher Gemeinschaft, füreinander da zu sein, was nicht nur am Lebensende gilt. Gibt es etwas Schöneres?

Sie betonen auch die Bedeutung hilfreicher Rituale

Rituale sind sehr wichtig. Nach Eintritt des Todes wird die Patienten, der Patientin im Zimmer bereitgemacht und darf bis drei Tage bleiben. So haben die Angehörigen und alle Beteiligten genug Zeit, um Abschied zu nehmen. Nach dem Einsargen durch den Bestatter werden alle Mitarbeitenden zusammengerufen. Im Namen aller spricht jemand ein paar Abschiedsworte. Wir alle stehen Spalier, wenn die Türe aufgeht und der Sarg hinausfährt und in den Leichenwagen eingeladen wird. Wenn es die Angehörigen wünschen, sitzen wir noch mit ihnen zusammen und trinken gemeinsam etwas. Wir begleiten die Hinterbliebenen auch nach der Beisetzung, schicken ihnen nach einem Monat eine Karte und laden sie dreimal jährlich zur Totengedenkfeier der entsprechenden Periode ein. Falls gewünscht können sie auch nochmals für ein Gespräch vorbeikommen.

Den Tod wieder in unseren Alltag zurückholen.

Sterben und Tod werden in unserer Gesellschaft nach wie vor tabuisiert. Die Pandemie zeigt, wie sehr sich viele Menschen vor dem Sterben fürchten und den Gedanken an den endgültigen Abschied verdrängen. Können wir uns aufs Sterben vorbereiten?

Ein Tabu entsteht, wenn wir etwas verdrängen und nicht darüber reden. Deshalb macht es schrecklich Angst. Wenn wir neugierig sind auf die Erfahrungen anderer und respektvoll darüber reden, kann dies hilfreich sein. Und doch müssen wir respektieren, wenn jemand nicht über das Sterben und den Tod sprechen will. Natürlich tut ein endgültiger Abschied weh. Doch gehören Krankheiten und Schmerzen zum Leben. Deshalb müssen wir Sterben und Tod wieder ins Leben, in unseren Alltag zurückholen. Wie gut, dass unser Hospiz mitten im Dorf, nahe an einem Kreisel steht! Es ist wunderbar, dass wir von den Menschen im Quartier selbstverständlich akzeptiert wurden. Wichtig ist, dass die Leute erfahren, wie hier gelebt wird. Wenn wir es ihnen sicht- und spürbar machen, können sie es besser verstehen. Deswegen bieten wir jeden Dienstagnachmittag öffentliche Führungen an. Wir zeigen den Interessierten das Haus, und im Anschluss gibt es eine Fragerunde. Wir hoffen sehr, dass diese Führungen nach der Pandemie bald wieder möglich sind. 

Sie sind die Ärztin im Haus und gleichzeitig die Geschäftsführerin der Stiftung Hospiz Zentralschweiz. Was bedeutet diese Arbeit für Sie persönlich?

Wenn ich am Morgen ankomme, denke ich immer wieder: Es ist ein Wunder, dass wir es geschafft haben und unsere Vision realisieren konnten, in einer entscheidenden Lebensphase als Gemeinschaft für andere Menschen da zu sein. Das ist für mich Freude, es nährt mich und gibt mir sehr viel. Es ist ein Privileg, eine riesige Chance, so arbeiten zu können, wie ich meinen Beruf als Ärztin verstehe. 

Luzern, 26. März 2021 monika.fischer@luzern60plus.ch

Adresse und weitere Infos zum Hospiz:
Stiftung Hospiz Zentralschweiz, Gasshofstrasse 18, 6014 Luzern
Für Patientenanmeldung und Auskünfte: 041 259 91 91
Für andere Anfragen: 041 259 91 97
info@hospiz-zentralschweiz.ch
 www.hospiz-zentralschweiz.ch