Paul Huber. Bild: Joseph Schmidiger

Die 15. Nothelferin

Von Paul Huber

Plötzlich stellen wir fest, dass wir uns im Westen von Europa nach dem Zerfall der Sowjetunion zu wenig darauf eingestellt hatten, dass die geopolitischen Risiken damit nicht verschwunden sind. Dass Machtpolitik nach wie vor zum Instrumentarium von Staaten gehört, dass wir uns auf den Schutz der Amerikaner verlassen haben und dass wir, ohne den amerikanischen Schutzschild gegen einen Aggressor, ziemlich «blutt» dastehen. Gleichzeitig erkennen wir, dass wir uns in anderen Bereichen auch vom westlichen Hegemon USA abhängig gemacht haben und recht wehrlos und verdattert dreinschauen, wenn dieser seine Interessen rücksichtslos durchsetzt.

Was mir bei den Reaktionen auf diese ungemütliche Situation auffällt und oft den Blutdruck erhöht – sei es rund um den Krieg in der Ukraine, sei es rund um die Trump’sche Handelspolitik –, ist eine ganz spezielle Sorte von journalistischen Schlagzeilen. Oft tönen sie fast wie fromme oder erzürnte Stossgebete an einen der 14 Nothelfer: «Europa müsste», «Europa sollte», «Europa hat es verpasst!», «Warum hat Europa nicht früher?».

Dabei stelle ich mir immer wieder die Frage, wer ist mit Europa gemeint? Die mythische, von Zeus entführte Europa ist es ja offensichtlich nicht. Hinter den Schlagzeilen wird schnell klar, es kann sich nur um eine der europäischen Institutionen handeln, an die sich die schweizerischen Erwartungen richten, die EU, der Europarat, europäische Gerichte. Jedenfalls um etwas, von dem sich viele Schweizer Politikerinnen und Politiker im gut geschmierten Alltag möglichst fernhalten, an das sie sich aber beim Auftauchen von Problemen immer wieder erinnern.

Das Bild von den Nothelfern passt da ganz gut. Im Alltag kümmern wir uns nicht um sie. Sie stehen als Säulenheilige in Kirchen, wir finden sie in den verschiedenen Kapellen der Zentralschweiz (ein Freund hat mir gesagt, die Katharinenkapelle in Ruswil biete als Zusatznutzen auch noch eine besonders schöne Aussicht). Andere hängen den hl. Christopherus als «Zeiali» an den Rückspiegel im Auto.

Wir halten uns die Heiligen Barbara, Blasius, Pantaleon usw. als Reserve in der Hinterhand. Kommt Not, verhalten wir uns transaktional und gehen mit dem zuständigen Heiligen kurzfristig einen Deal ein, versenden ein Stossgebet, zünden ein Kerzlein an oder werfen etwas Münz ins Kässeli. Geholfen wird allen: guten und schlechten Katholik:innen, Abtrünnigen und – wie ich schon gehört habe – auch Reformierten. Gelegentlich sogar dann, wenn das in der Not versprochene Münz vergessen geht.

So geduldig wie die Nothelfer ist die aus dem Schrecken und der Not des Zweiten Weltkriegs geborene EU mit der Schweiz nicht. Zu Recht. Gegründet mit dem Ziel, einerseits den Handel über die nationalen Grenzen zu erleichtern, andererseits die Lehren aus der Schreckensherrschaft europäischer Faschisten zu ziehen und gemeinsam die Demokratie zu verteidigen, ist sie durchaus in der Lage, ihre Mitglieder und darüber hinaus unseren Kontinent zu schützen und in der Not zu helfen.

In der Finanzkrise 2008 half sie den Mittelmeerländern wieder auf die Beine. Mit Sanktionen verhinderte sie das Abgleiten von Polen in ein autoritäres Regime. Dank ihrer energiesparenden Produktestandards, die sie europaweit durchsetzt, geht es mit der Klimapolitik vorwärts. Mit ihrer wirtschaftlichen Stärke kann sie den Tech-Konzernen trotzen und rückt in der aktuellen Bedrohung noch enger zusammen.

Und wir? Ducken uns und profitieren.

Weshalb tut sich die Schweiz so schwer, sich in dieser Schicksals- und Notgemeinschaft EU zu engagieren? Wir, die vor bald zwei Jahrhunderten selbst zum Schluss kamen, dass nur ein engeres Zusammengehen aller Kantone in einem Bundesstaat die Zukunft der Eidgenossenschaft zu sichern vermöge, weshalb sehen wir – mit dem Blick auf die Blöcke in Ost und West – die Notwendigkeit eines engeren solidarischen Zusammengehens mit den anderen Nationen Europas nicht? 

Warum rufen wir lieber von aussen «Europa sollte!», «Europa müsste!», kritisieren und werfen – einige nennen das Erpressung – widerwillig hie und da einen bescheidenen Obolus ins EU-Kässeli? Ich weiss es nicht.

13. Juni 2025 – paul.huber@luzern60plus.ch
 

Zur Person:
Paul Huber, geboren 1947, war vor seiner Wahl in den Regierungsrat des Kantons Luzern als Primarlehrer, Lehrplanentwickler und Gewerkschaftssekretär im Zentralsekretariat des VPOD tätig. Nach 16 Jahren Tätigkeit im Justiz-, Gemeinde- und Kulturdepartement (1987 bis 2003) hatte er verschiedene staatliche, privatwirtschaftliche und gemeinnützige Führungsfunktionen inne. Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens stehen für den promovierten Historiker noch immer im Zentrum seines Interesses.