
Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm (75) sprach in Luzern über Bildungschancen.
Erfolgreiche Büezer-Kinder
Gleiche Bildungschancen für Kinder aus allen sozialen Schichten: Dafür warb Margrit Stamm an einem «Lebensreise»-Anlass.Von Monika Fischer (Text und Bild)
Im Rahmen der von der Fachstelle Alter der Stadt Luzern organisierten «Lebensreise 2025» sprach die emeritierte Professorin für pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften Margrit Stamm am 16. September im Marianischen Saal über die Vererbung von Bildungschancen. Dabei verband sie die wissenschaftlichen Ergebnisse ihrer Studie mit ihrer persönlichen Lebensreise als sogenannte bildungsferne Schülerin.
Die Referentin sagte, dass sie aufgrund einer Pisa-Studie vor 25 Jahren auf das Thema der vererbten Bildungschancen gestossen sei. Diese hatte aufgezeigt, dass die soziale Herkunft vererbt wird, während die Intelligenz eine zweitrangige Rolle spielt. Bei Kindern mit derselben Intelligenz gehen 4 Prozent der Kinder mit Eltern ohne Berufslehre ans Gymnasium, 20 Prozent der Kinder von Eltern mit Berufslehre, 88 Prozent der Kinder von Akademikereltern.
Hartnäckigkeit, Zufall, Glück
Das Thema interessierte Stamm ebenso aus persönlichen Gründen, weil sie selber als Tochter eines Sattlers/Tapezierers und einer Akkordarbeiterin in einem Arbeitermilieu aufgewachsen war. Offen erzählte sie von ihrer Befindlichkeit und ihren Erfahrungen in der Schule und im sozialen Umfeld. Sie bezeichnete sich als schwieriges, vorlautes Kind mit viel Fleiss, enormem Willen und dem Traum, Lehrerin zu werden.
«Ich hatte das grosse Glück, immer wieder durch Mentoren unterstützt zu werden», betonte sie. Das waren der Deutschlehrer im Lehrerseminar, der an sie glaubte, der Professor an der Uni Fribourg, der sie zur Habilitation ermunterte, sowie ihr Partner, der sie stets unterstützte. So habe sie ihren Weg zur Professorin dank Hartnäckigkeit, Zufall und Glück geschafft. Sie verschwieg nicht, dass sie dabei viermal gescheitert war. So, als ihre Habilitation vom Professor zurückgewiesen wurde mit dem Hinweis, diese sei langweilig und genüge nicht. Sie empfand dies als riesige Kränkung, raffte sich nach drei Monaten jedoch wieder auf und überarbeitete ihren Text, wobei sie vom Professor gefördert und unterstützt wurde.
Bildungsfernes Elternhaus
Die Ausführungen der Wissenschaftlerin bezogen sich auf rund 300 Interviews mit Menschen um die 40, die trotz bildungsfernem Elternhaus den Weg ans Gymnasium geschafft hatten und heute erfolgreich im Leben stehen. Ihre Untersuchungen hatten unter anderem gezeigt, dass Kinder aus sozial einfachen Familien für eine Empfehlung fürs Gymnasium schulisch bessere Leistungen erbringen müssen als Kinder aus Akademikerfamilien.
Die Gründe für mehr Chancengleichheit lägen jedoch nicht nur bei der Schule, sondern auch in den Familien. So würden zum Beispiel in Akademikerfamilien die Schulleistungen von den Eltern genau kontrolliert, bei Bedarf Nachhilfeunterricht angeboten und bei Leistungsdefiziten rasch Beschwerde eingereicht. Kinder und Jugendliche in einfachen Familien erhalten tendenziell wenig Unterstützung, bei Leistungsschwierigkeiten mache sich Hilflosigkeit breit.
Nicht Noten, sondern Potenziale
Als Erfolgsfaktoren der Kinder, die es geschafft haben, nannte sie Fleiss, Motivation und Begabung. Allerdings sprachen 60 Prozent der Betroffenen aufgrund von skeptischen Eltern und Lehrkräften von Angst, sie seien am Gymi/an der Kanti fehl am Platz. 30 Prozent zweifelten noch heute, ob sie wirklich genügen.
Stamm hat diese «Aufstiegsangst» selber nicht ganz überwunden, hat indessen eine Strategie der eigenen Zuversicht entwickelt, um damit besser umgehen zu können. Als Fazit, auch begabten Kindern aus einfachen Verhältnissen einen akademischen Weg zu ermöglichen, nannte die Referentin unter anderem den Aufbau einer Kultur des positiven Blicks, ein Übertrittsverfahren, bei dem nicht Noten, sondern Potenziale im Zentrum stehen und Mentorinnen für Kinder mit Aufstiegsangst.
Elitär?
Das Referat habe den Eindruck vermittelt, der akademische Weg sei der einzige Weg zum Lebensglück, wurde in der Diskussion kritisiert. Stamm verneinte vehement und betonte die Bedeutung einer erfolgreichen Berufslehre. Doch habe sie sich im Referat auf ihre Studie bezogen, die auch die Grundlage bilde für ihr aktuelles Buch mit dem Titel «Von unten nach oben».
Stamm sagte: «Ich bin nicht glücklich mit dem elitären Titel, den mir der Verlag im Hinblick auf den Verkauf aufgedrängt hatte.» Doch war ihr wichtig aufzuzeigen, dass die soziale Herkunft auch heute noch den Lebensweg mancher Kinder und Jugendlichen bestimme, was aufzubrechen sei. Deshalb forderte sie ein Bildungssystem, in dem Neigung, Fähigkeiten und Interessen der Kinder im Zentrum stehen.
22. September 2025 – monika.fischer@luzern60plus.ch