Miette Vonarburg: «Es müssen einige Faktoren mitwirken, bis die Erotik spielt.» Bild: zvg
«Ich verstehe unter Sexualität eher Sinnlichkeit»
Als 75-Jährige sprach Miette Vonarburg vor einigen Jahren an einer Pro-Senectute-Fachtagung in Luzern zum Thema Sexualität im Alter. Die pointierten Ansichten der verheirateten fünffachen Mutter und gelernten Sozialarbeiterin kamen damals gut an und sind nach wie vor interessant und amüsant. Im Folgenden eine gekürzte Fassung ihres Vortrags.
«Das Thema Sexualität, wie es in der Regel behandelt wird, erzeugt einen Erwartungsdruck, von dem ich wenig halte. Besonders für die Männer ist der Leistungsdruck schon immer sehr gross gewesen. Man muss, man muss sooft pro Woche, pro Jahr und so weiter. Dies wiederum setzt auch die Frauen unter Zwang. Mir ist aufgefallen, dass es meistens Menschen sind, die in einer zweiten Beziehung neue, erfrischende, verjüngende Erfüllung gefunden haben. Das ist ihnen ja zu gönnen, aber es zwingt jene, die schon lange in derselben Beziehung sind, zu überlegen, ob sie eigentlich noch normal sind, wenn sie weniger oder keinen Sex mehr haben.
Dass die Alten weniger leidenschaftlich sind, gibt ihnen auch Vorteile. Es pressiert nicht mehr so. Sie haben mehr Zeit. Wir älteren Menschen haben auch nicht mehr die körperliche Beweglichkeit junger Menschen. Wir können nicht alle gymnastischen Möglichkeiten im Sexualleben ausschöpfen.
Kribbeln allenthalben
Meiner Meinung nach wird immer wieder einiges verwechselt. Viele meinen mit Sexualität nur den genitalen Sex, den Geschlechtsverkehr. Für mich ist Sexualität die Körpersprache der Liebe. Ich verstehe unter Sexualität eher Sinnlichkeit. Ich habe Augen, die das Schöne eines Mannes gerne sehen. Ich habe eine Nase, die es ganz besonders mag, wenn ein Mann gut riecht – frisch gewaschen und wohl duftend. Nicht süss, aber herb männlich. Ich habe Ohren, die sehr gern nett gesprochene Komplimente entgegennehmen, Liebenswürdigkeiten hören. Dazu einen Mund, der gerne intelligente und witzige Gespräche führt. Ich habe Gefühle, die mir sagen, in welcher Verfassung der andere Mensch im Moment ist. Ich habe Sexualorgane, die mir Lust bereiten können.
Damit Sie es mir glauben, erzähle ich Ihnen eine kleine Geschichte, die mir ganz unerwartet passierte: Am Arm meines Ehemannes ging ich die Stufen zur Kirche hinauf, weil wir an einen Beerdigungsgottesdienst mussten. Vor mir ging ein stattlicher Mann, dessen Nacken mich total faszinierte. Es war ein hübscher Chruselinacken, auf die ich schnell ‹abfahre›, weil ich Lust bekomme, mit beiden Händen durch diese Männermähne zu fahren. Mein Glück wollte, dass wir neben diesen Mann zu sitzen kamen. Mich durchlief ein Wonnegefühl, als er mit seinem Kittelärmel meinen Mantelärmel streifte. Dann begann der Gottesdienst und wir hatten zu singen. Als ich die Stimme meines Nachbarn hörte, eine Stimme, die mir überhaupt nicht gefiel, war für mich ganz plötzlich jegliche Erotik von hundert auf null gesunken. Von einem Moment auf den andern. Sie sehen, es müssen einige Faktoren mitwirken, bis die Erotik spielt.
Den Lippenstift brauche ich immer. Meine Mutter war eine Welsche. Von ihr habe ich gelernt, dass der Lippenstift zur Morgentoilette gehört. Somit können Sie mich schon am frühen Vormittag frisch mit Lippenstift gestrichen am Briefkasten antreffen. Ohne rote Lippen fühle ich mich einfach nicht richtig angezogen. Warum soll es älteren Menschen vergönnt sein, sich zu pflegen, sich farbig zu präsentieren, sich attraktiv zu machen? Warum sollen dies nur die Jungen dürfen?
Dauernde Pflege als Muss
Erotische Beziehungen bedürfen der dauernden Pflege. Um anziehend zu bleiben, ist ständige Verlebendigung der Partnerschaft gefragt, des Werbens umeinander. Dafür gibt es viele zärtliche Zwischentöne, die mit Fantasie gelebt werden können. Als Körpersprache der Liebe ist Sexualität in vielen Gesten zu vermitteln. Viele Paare bewerten ihr jeweiliges derzeitiges sexuelles Verhalten zu Recht als Massstab für ihre momentane Beziehung. Aber es gibt auch Paare, die eine sehr gute Beziehung haben, ohne dass sie Sexualität noch leben wollen oder können. Sie mögen dafür als reife Menschen ein Klima von Sinnlichkeit schaffen durch Streicheln, Berühren, durch Zuwendung, echtes Zuhören, liebe Blicke, gegenseitige Hilfe, durch gutes Essen, die Pflege gemeinsamer Interessen, Spiele und Reisen. Ich selber setze weiterhin auf Charme, Flirt, Erotik, Zärtlichkeit, Begegnung mit Freunden, Wärme, Nähe, Liebe. Und wenn Sex dazu kommt, umso schöner.»
Textbearbeitung Eva Holz
Dieser Text ist auch im Schweizer Magazin «active&live» erschienen.