Judith Stamm.                                                                            Bild: Joseph Schmidiger

Digitale Welt

Von Judith Stamm

Da hat mich doch eine Kollegin auf einen existenziellen Widerspruch in meiner Grundeinstellung zum Handy aufmerksam gemacht. Sie zitierte aus einem Referat. Unter dem Titel «Jedem sein eigenes Alter» hätte ich im Oktober 2005 gesagt: «Ich habe kein Handy. Will ich mich auch noch denen anschliessen, die 24 Stunden am Tag verfügbar sind oder weigere ich mich?»

Und dann zitierte sie aus einer neueren Kolumne (Seniorweb vom 20.4.21), in der ich feststelle: «Besonders das Handy ist für mich ein kostbares Kleinod.» Und fügt an, dass sie dieser Wandel sehr amüsiert habe. Aber, es bleibe uns ja nichts anderes übrig, als diesen «neuen Errungenschaften hinterher zu hecheln. Wie könnten wir uns sonst ohne Handy schnell und unkompliziert, kurzfristig verständigen über Zusammentreffen, über Kaffeeschwatz auf Bänkleins im Freien, über Schifffahrten….unvorstellbar!»

Als erstes kam mir da natürlich der lateinische Satz in den Sinn: «tempora mutantur nos et mutamur in illis», der in der Übersetzung heisst: «Die Zeiten ändern sich und wir ändern uns in ihnen». Wie wir Wikipedia entnehmen können, ist der Satz seit dem 16. Jahrhundert als Sprichwort belegt. Also alt genug, dass wir uns ohne Bedenken auf ihn stützen können!

Und dann suchte ich nach meinem Referat vom Oktober 2005. Fand es zu meinem grossen Erstaunen auf Anhieb. Es ist noch nicht digitalisiert, aber fein säuberlich in einem Ordner unter der entsprechenden Jahreszahl abgelegt. Meine Aussage lautete im grösseren Zusammenhang: «Ich schicke Mails, ich surfe im Internet, aber ich habe kein Handy. Will ich mich noch denen anschliessen, die 24 Stunden am Tag verfügbar sind oder weigere ich mich? Da erinnere ich mich immer an meine Grossmutter, die seinerzeit partout das Telefon nicht eingerichtet haben wollte. Ich sehe sie noch vor mir: 'Das ist Teufelszeug' sagte sie und gewöhnte sich fast nicht mehr daran, aus dem Hörer die Stimme ihres Sohnes, meines Vaters, zu vernehmen. Ich weiss noch nicht, ob ich in ihre Fussstapfen treten oder mir doch noch ein Handy, zu vernünftigem Gebrauch, zulegen will…..!!!»

Die Frage hat sich unterdessen erledigt. Ich habe mein Handy, trage es mit mir, benützte es und lade es über Nacht wieder auf. Wenn ich das nicht vergesse!

So ganz kann ich mich in die seinerzeitige Situation nicht mehr einfühlen. Aber ich erinnere mich, dass ich bei einem Projekt engagiert war, für welches häufiger telefonischer Austausch nötig war. Immer, wenn ich nachhause kam, signalisierte mir das Lämpchen beim Festnetztelefon, dass eine Nachricht eingegangen war. Mit der Zeit nervte mich das so, dass ich mir ein Handy zulegte und so auch «unterwegs» erreichbar war. Ähnliches hatte mich zum Einrichten eines E-Mail-Kontos bewogen. Ich war Mitglied eines Vereinsvorstandes gewesen und, man stelle sich vor, das einzige Mitglied, dem man das Protokoll noch per Post zusenden musste! Blitzschnell änderte ich das, diese «Sonderbehandlung» liess mein «Puntenöri» (point d`honeur, Ehrgeiz) nicht zu.

Sicher trifft es zu, dass die aktuelle Pandemie der Digitalisierung des täglichen Lebens Vorschub leistet. Gleichzeitig stelle ich fest, wie die Digitalisierung alltäglicher Abläufe die menschliche Kommunikation aus diesen Abläufen hinausdrängt. Beim Einkaufen fällt mir das besonders auf. Ich wähle mein Produkt, zeige es der Verkäuferin, berühre mit meiner Kreditkarte das entsprechende Apparätchen, tippe meinen Code ein und der Zahlungsvorgang ist erledigt. Unser Austausch besteht lediglich noch in der Frage, ob ich mein Produkt als Geschenk eingepackt haben möchte oder ob ein gewöhnliches Papier reiche?

In den Grossverteilern stelle ich mich immer bei den Kassen an, die von Menschen besetzt sind. Hier geht es auch um die Erhaltung von Arbeitsplätzen, denke ich mir. Angesichts meines Alters kann ich nur hoffen, dass sich der Höhepunkt dieser Entwicklung, weg vom Austausch unter Menschen, hin zu rein digitalen Abläufen, noch etwas hinauszögern wird! - 3. Mai 2021 

judith.stamm@luzern60plus.ch

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.