Cécile Bühlmann, ehemalige Nationalrätin der Grünen. Bild: Joseph Schmidiger

Selbstverständlichkeit statt Gottesstrafe

Von Cécile Bühlman

Schon früh war ich eine Leseratte und schmökerte auch in Büchern, die nicht für Kinder vorgesehen waren. Eines Tages fand ich im Schlafzimmerschrank meiner Mutter ein Buch, das ich heimlich zu lesen begann. Von einem schrecklichen Geheimnis war die Rede, vom massenhaften Mord an ungeborenen Kindern, von Abtreibungen und wie die Strafe Gottes diese Frauen treffen müsse. Zum ersten Mal in meinem Leben wurde ich mit dem Thema konfrontiert, das düstere Geheimnis fuhr mir gewaltig ein. Ich konnte aber mit niemandem darüber reden, hätte ich doch das Buch gar nicht lesen dürfen. Es waren die bleiernen 1960er-Jahre, es herrschte noch die göttliche Ordnung, was die Geschlechterrollen und die Rolle der Kirche betraf.

Zeitsprung: In den letzten Tagen wurde bekanntgegeben, dass zwei Volksinitiativen, die das Recht auf Abtreibungen hätten einschränken sollen, schon in der Sammelphase gescheitert waren. Es gab nicht einmal mehr genug Leute, die sie unterzeichnen mochten.

«Mein Bauch gehört mir»
Zwischen diesen beiden Ereignissen liegen etwa sechs Jahrzehnte. In dieser Zeit ist in der Abtreibungsfrage enorm viel geschehen. In den späten 1970ern brachte die neue Frauenbewegung das Thema aus dem Dunkeln ans Licht. In Luzern war das die Organisation für die Sache der Frauen, OFRA genannt, der ich mich frühzeitig angeschlossen hatte. Die Slogans lauteten: «Mein Bauch gehört mir» und «Das Private ist politisch». Wir sammelten Unterschriften für eine Initiative, die einen straflosen Schwangerschaftsabbruch ermöglichen sollte. Es brauchte Mut dazu, wir wurden beim Sammeln als Mörderinnen beschimpft und heftig angegriffen. Der erste Versuch misslang, es brauchte unzählige weitere, bis nach jahrzehntelangem Kampf die Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs endlich möglich wurde.

Die neue Regelung wurde in der Volksabstimmung vom 2. Juni 2002 mit einem überwältigenden Ja-Stimmenanteil von über 72 Prozent angenommen. Die Fristenregelung trat am 1. Oktober 2002 in Kraft. Heute können schwangere Frauen in den ersten zwölf Wochen selber entscheiden, ob sie ihre Schwangerschaft fortsetzen wollen oder nicht. Die Kosten werden von der Grundversicherung übernommen. Der Schwangerschaftsabbruch ist aber nach wie vor im Strafgesetzbuch geregelt.

Kaum mehr Widerstand
Der erlaubte Schwangerschaftsabbruch ist in der Schweiz inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. Es gibt zwar immer mal wieder den Versuch, das Rad zurückzudrehen, aber kaum mehr Ernst zu nehmenden Widerstand dagegen, wie das Scheitern der zwei Initiativen zeigt. Ein Zurück in die Vergangenheit scheint nach meiner Einschätzung nicht mehr möglich, zu sehr ist das Thema politisch vom Tisch und in der Bevölkerung breit akzeptiert. Vielleicht wird der Schwangerschaftsabbruch in den nächsten Jahren sogar noch aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Diese Option ist wahrscheinlicher als ein Zurück vor den Status quo.

Ganz anders laufen die Debatten in anderen Ländern. In den USA ist es das Thema, das die Gesellschaft spaltet. Bist du «Pro Choice» oder «Pro Life», wurde ich immer und immer wieder gefragt, als ich Mitte der 1990er-Jahre auf Einladung der amerikanischen Botschaft als International Visitor durch das politische Amerika reisen konnte. Und es geht weiter bis heute: Der Oberste Gerichtshof der USA hat letztes Jahr das liberale Abtreibungsrecht gekippt. Damit machte der Supreme Court den Weg für schärfere Abtreibungsgesetze frei – bis hin zu kompletten Verboten in einzelnen Bundesstaaten. Solche kennen auch El Salvador, Malta, Ägypten, der Kongo, die Dominikanische Republik, Honduras, der Irak, Laos, Madagaskar, Mauretanien, Nicaragua, die Philippinen, Senegal, Sierra Leone und andere mehr.  

Fortschritt brauchts auch sonst noch
Die Schweiz hat also in dieser Angelegenheit entgegen ihrem konservativen Ruf einen erstaunlichen und breit abgestützten Fortschritt erzielt. Natürlich kam der nicht auf eigenen Füssen daher und musste hart erkämpft werden. Aber es gelang.

Ein vergleichbares Phänomen findet sich 20 Jahre später in der Frage der Ehe für alle. Auch da gelang nach jahrelangem Kampf schliesslich ein grosser Fortschritt, auch in dieser Abstimmung mit 64 Prozent Ja-Stimmen kam die grosse Akzeptanz zum Ausdruck.  Es scheint, dass in gesellschaftspolitischen Fragen ein Kulturwandel möglich ist, und zwar einer, der nicht auf einem Zufallsmehr beruht und eine gespaltene Gesellschaft zurücklässt. Ich vermute, dass die direkte Demokratie dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Aber warum gelingt dies bei sozial- oder umweltpolitischen Fragen viel weniger? 

25. Juni 2023 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch
 

Zur Person
Cécile Bühlmann ist geboren und aufgewachsen in Sempach. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991-2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Präsidentin der Grünen Fraktion. Von 1995-2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005-2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006-2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie ist seit langem Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.