Judith Stamm. Foto: Joseph Schmidiger

Sterbe- oder Lebensbegleitung

Von Judith Stamm

Es ist wohl den Umständen und unserem Alter geschuldet, dass wir beim Morgenkaffee unter Kolleginnen häufiger als sonst über das Lebensende, das Sterben, den Tod sprechen. Und eine lange Lebenszeit bringt unweigerlich immer wieder Begegnungen mit dem Ende des Lebens mit sich.

Vor Jahren hatte mir ein Bekannter erzählt, dass er jetzt einen Kurs für Sterbebegleitung besuche. «Wieso macht ihr nicht einen Kurs für Lebensbegleitung», fragte ich ihn. Ich kannte damals einige sehr alte Menschen, die nicht in ein Beziehungsnetz von Verwandtschaft, Freundschaft oder Nachbarschaft eingebettet waren. Da lag oft noch eine freudlose Lebensstrecke vor ihnen, die sie allein gehen mussten. «Wenn sie dann am Sterben sind, dann kommt Ihr rasch und wollt noch ‹begleiten› und euch dabei gut fühlen», meinte ich etwas boshaft. «Ihr müsstet früher kommen.»

Einen besonderen Umgang mit dem Tod fand der reformierte Pfarrer und Schriftsteller Kurt Marti (1921-2017) in seinen Gedichten «Leichenreden». Das Büchlein ist mir kürzlich wieder in die Hände gefallen. Und es öffnete sich an der richtigen Stelle, wo es zu Beginn einer solchen Rede heisst:

«welche wohltat, auch einmal sagen zu dürfen: 
nein, er war nicht tüchtig und wechselte oft die stelle
nein er war nicht fleissig
und arbeitete nur
sofern es nicht anders ging.»

Und der Schluss folgendermassen lautet:

«ein mann, der sich gute tage
zu machen wusste
ehe nach einigen bösen
jetzt
der letzte tag für ihn kam.»

Ich fing an, in meinen Erinnerungen zu suchen, wie ich denn im Verlaufe der Jahre dem Tod begegnet war. Da erreichte mich einst an einem Morgen, noch im Halbschlaf, die Nachricht vom überraschenden Tod eines Cousins, einige Jahre älter als ich, dem ich sehr verbunden gewesen war. Beim Abschiedsgottesdienst wurde die Liturgie eines Auferstehungsgottesdienstes gefeiert. Mit weissen Messgewändern und entsprechenden Liedern. Das war gut gemeint, aber für alle Beteiligten eine Überforderung. Die Trauergemeinde hatte noch nicht aus ihrer Trauer herausgefunden, für «Auferstehungsgedanken» war sie noch nicht reif.

Es gab auch Abschiedsfeiern, die präsentierten sich als Kunstwerke, in denen Musik und Worte einander wunderbar ergänzten. Und für all jene, deren Teilnahme vor allem aus Gründen der Höflichkeit stattgefunden hatte, hatte sich im abschliessenden Urteil die Investition von Lebenszeit «gelohnt».

Eine unvergessliche Geschichte las ich bei Sigismund von Radecki (1891-1970). Diese trug sich kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zu und ist auch vor diesem Hintergrund zu verstehen. Einem Pfarrer oder Pastor, der jeweils zum anschliessenden Essen mit den Trauergästen eingeladen war, fielen mit der Zeit zwei alte Damen auf, denen er immer wieder begegnete. Er kam mit ihnen ins Gespräch. Sie hatten es sich zur Gewohnheit gemacht, überall an Beerdigungen zu gehen und sich zum anschliessenden Essen einladen zu lassen. Bei Bedarf hatten sie die passende Geschichte bereit, wie sie mit der verstorbenen Person während deren Lebzeiten bekannt und verbunden gewesen waren. Es war Nachkriegszeit. Wer wollte da schon zweifeln oder überprüfen? Das Leben der beiden Gäste war karg und so kamen sie hin und wieder zu einem nahrhaften Essen. Der geistliche Herr war natürlich weit davon entfernt, die beiden alten Damen zu verraten. Umso mehr, als sie ihm ihrerseits versprachen, nirgends auszuplaudern, dass er an jeder Trauerfeier die genau gleiche Predigt hielt.

Alle meine Angehörigen wurden in Zürich auf dem Friedhof Nordheim beerdigt. Es kam der Tag, an dem das Feld mit dem Grab meiner Mutter, zuletzt verstorben, geräumt wurde. Das Bestattungsamt lud die Angehörigen ein, sich noch ein letztes Mal zu verabschieden. Das war eine kluge Idee, es versammelten sich etwa hundert Personen. Es wurden passende Worte gesprochen. Von einem Vertreter des Bestattungsamtes wurde darauf hingewiesen, dass der Platzbedarf kleiner werde, weil neue Formen der Bestattung um sich griffen.

Es war eine säkulare, würdige Feier. Umrahmt von Trompetensoli.

Auf den Trompeter ging ich nach Abschluss der Feier zu und lobte seine Künste. Er habe zuerst geglaubt, es gehe um geistliche Musik, bis er plötzlich gemerkt habe, dass hier andere Melodien gefragt seien, erzählte er mir.

«Ja, haben Sie denn ein solch grosses Repertoire» fragte ich etwas naiv. Er schaute mich an und seine Antwort, die mich heute noch freut, war: «Was meinen Sie denn? Ich bin der Cheftrompeter des Tonhalleorchesters!» Natürlich, so hatte seine Musik auch geklungen, einfach meisterhaft.

5. Januar 2022 – judith.stamm@luzern60plus.ch

 

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971-1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983-1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989-1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998-2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.