Magi an der Fasnacht. Bild: Emanuel Ammon
 

Vor 50 Jahren wurde die Tochter von Magi nach Sardinien entführt.

Der Ex-Mann brachte das 2½-jährige Kind weg, um Magi zu erpressen. Sie sollte bei ihm bleiben. Magi ist eine bekannte Luzerner Fasnachts-Frau. Sie floh in kreative Aktivität, sagt sie. Sie holte zahlreiche Auszeichnungen an der Luzerner Fasnacht.
Von Rolf Wespe


„Jetzt musst Du Dich entscheiden Magi. Entweder du bleibst bei mir mit unserer Tochter Amy*, oder du lebst ohne mich und siehst Amy nie mehr.“ Ehemann Augusto, (damals 34 Jahre alt) droht am Telefon, die gemeinsame zweieinhalbjährige Tochter Amy in seine Heimat Sardinien zu entführen, wenn sich Magi (damals 26) scheiden lässt. Augusto telefoniert aus Chiasso. Am 5. Februar 1971, am Tag als in Luzern der Bahnhof brennt.

Ein Bild von Amy, ihrer Tochter, die inzwischen 52 Jahre alt ist, steht in der Küche von Magi B. (74). Markenzeichen von Magi, einer grossen, schlanken Frau, ist der Pony-Schnitt. Helle Haare bedecken ihre Stirne bis knapp über die Augenbrauen. Magi arbeitete 25 Jahre lang an der Kasse des Luzerner Kleintheaters. „Ich könnte ein Buch über mein Leben schreiben“, sagt sie. 

Schwanger, bevor sie wusste, wo die Kinder herkommen

„Als Kind wollte ich Balletttänzerin werden. Aber ich getraute mich nicht, das jemandem zu sagen. Tänzerinnen seien Studentenfutter, sagte man in Obwalden.“ Magi wächst in Alpnach auf. Als Tochter einer Serviertochter und eines Steuerverwalters und Musikers. Sie bewegt sich im „Jungfrauen Turnverein“ von Alpnach. Nach einer Turnprobe gibt ihr im Restaurant Augusto aus Sardinien Feuer. Sie verliebt sich in den blendend aussehenden Italiener mit schwarzen Haaren und schöne Zähnen. Als 19-jährige durfte sie abends nicht alleine in den Ausgang. Sie schleicht nachts durch den Keller und kriecht durch das Gebüsch aus dem Eltern-Haus, um den acht Jahre älteren Geliebten zu treffen: „Ich bin schwanger geworden, bevor ich wusste, wo die Kinder herkommen. Ich war so verliebt. Es ist einfach passiert.“ Ihre Mutter will kein uneheliches Enkelkind im katholischen Obwalden: „Du kannst nach Brasilien fliegen zu deiner verheirateten Schwester und lässt das Kind dort.“ „Ich kratze Dir die Augen aus, wenn Du das nochmals sagst“, antwortet die Tochter. Magi und Augusto heiraten auf Wunsch der Eltern im Tessin. Trauzeugen sind die Eltern von Magi. Im Oktober 1965 gebärt sie Sohn Roberto*.  

Das Paar richtet eine Dreizimmer Wohnung in Sarnen ein. Prunkstück ist ein teurer Glasleuchter. Augusto steht auf einer Leiter, Magi assistiert. Augusto müht sich ab und findet den Hacken an der Decke nicht. Er flucht und schmeisst die Lampe auf den Boden. Sie zerspringt in tausend Stücke. Magi wischt den Scherbenhaufen mit Tränen in den Augen zusammen. „Du denkst immer nur ans Geld“, sagt Augusto.

Du Huer du“

Augusto ist ein Sprachtalent und arbeitet genau und präzis als Siebdrucker. Er wird von seinen Arbeitgebern gelobt. Trotzdem muss er immer wieder eine neue Stelle suchen. Sein aufbrausendes Temperament führt zu Konflikten mit seinen Arbeitskolleginnen. „Himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt“, beschreibt Magi die Stimmungsschwankungen ihres Ehemannes. Es ist nicht vorauszusehen, auf welche Seite das Pendels seine Stimmung ausschlägt. Magi sagt selten etwas, um ihren Mann nicht zu provozieren. Anfangs1968 entführt

Augusto den gemeinsamen zweieinhalbjährigen Sohn Roberto nach Sardinien zu seinen Grosseltern. Magis Vater Robi hilft. Der Teilzeit Bandleader hat ein Faible für Autos. Er chauffiert sie mit seinem Chrysler Valiant nach Sardinen. Der Wagen wird in ein Netz eingepackt und mit einem Kran auf das Fährschiff gehoben. Roberto fährt mit Magi in Grossvaters Chrysler zurück in die Schweiz. „Ich darf doch meinen Sohn den Grosseltern zeigen“, rechtfertigt sich Augusto. Roberto war drei Monate in Sardinien.

Magi ist schwanger mit dem zweiten Kind, ihrer Tochter Amy. Sie besucht mit Augusto einen Fasnachts-Ball in Sarnen. Augusto will nach Stans. Er will einen anderen Ball besuchen. Magi bleibt. Sie will bald wieder nach Hause zu ihrem Sohn. Ein anderer Mann setzt sich auf den Platz, den Augusto räumt. Augusto kommt zurück und schlägt auf den Mann ein, weil er sich auf den freien Stuhl vis à vis von Magi gesetzt hat. Augusto spuckt Magi ins Gesicht und schreit „Du Huer du“. Zwei kräftige Glasbläser befördern Augusto weg. Von diesem Moment an ist für Magi klar, dass sie sich scheiden lassen will. Sie gebärt Tochter Amy(*) im Juni 1968. 

„Ich bringe dich um“

„Es wäre besser, wir gehen auseinander“, sagt Magi ein paar Tage später. Sie erträgt seine krankhafte Eifersucht nicht länger. Augusto verlässt die Wohnung. Er kommt nachts um Ein Uhr betrunken nach Hause, reisst sie aus dem Schlaf mit rotgrünen Augen, dem Blick eines Wahnsinnigen, eines Teufels. Er schliesst die Wohnungstüre ab, steckt den Schlüssel der Wohnung in den Sack: „Ich bin gekommen um dich umzubringen. Du hast mein Leben zerstört.“ Magi, hochschwanger, rennt zum Telefon. Augusto rupft das Kabel aus der Wand, schliesst die Fenster, packt sie am Handgelenk und zwingt sie aufs Sofa. „Ich würge Dich mit einem Strumpf um den Hals und schneide Dich zu Mortadella.“ Sie befreit sich und versteckt sich hinter der Schlafzimmertüre. Augustos Hände sind an ihrem Hals. Sie gibt ihm einen Tritt zwischen die Beine und wird ohnmächtig. Sie erwacht auf dem Sofa. Er liegt auf ihr und in ihr.“ Augusto und Magi sprechen nie wieder über diese Nacht. „Vielleicht mag ich deswegen heute noch keinen Mortadella“, sagt Magi.

Vielleicht fühlt sich Augusto wohler in Italien, hofft Magi. Die Familie zieht für ein halbes Jahr nach Rom. Augusto will wieder zurück. Für ihn funktioniert in Italien nichts.  Sie kommen zurück in die Schweiz. Magi arbeitet in der AG für Lastwagenzubehöre.  Sie schreibt Rechnungen für Rad-Keile, Dichtscheiben und Anhängerkupplungen. Die beiden Kinder besuchen die italienische Krippe in Emmen. Sie werden im Asilo von Nonnen betreut. Magi hat genug: „Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns trennen.“ Augusto schweigt. Am folgenden Tag, am 5. Februar 1971, besucht Augusto die Krippe und sagt, seine zweieinhalbjährige Tochter müsse zum Arzt. Er entführt Amy.

Amy in der Verbannung

Augusto ruft Magi aus Chiasso an und fragt: „Rat mal, wo ich bin?“ Magi will die Scheidung. Sie rechnet damit, dass ihr die Behörden helfen, die entführte Tochter Amy zurückzuholen. Sie wendet sich an einen Anwalt: „Sparen Sie sich einen Haufen Geld und viel Ärger. Sie haben keine Chance, die Tochter aus Italien zurück zu holen.“ sagt der Jurist. Der Anwalt meint, es sei unmöglich einem Italiener in Italien ein Kind wegzunehmen. Heute könnte Augusto wegen Kindsentführung strafrechtlich belangt werden. Amy bleibt ein Jahr lang in der Verbannung in einem kleinen Dorf im Westen von Sardinien. Sie lebt bei der Mutter und den beiden Schwestern von Augusto.

Augusto kommt vorerst ohne Amy zurück in die Schweiz. Er willigt nur in eine Scheidung ein, wenn die Tochter bei ihm bleiben kann. Sohn Roberto darf bei Magi wohnen. Augusto heiratet eine Andere und lebt mit Amy in der Schweiz. Magi bekommt ein Besuchsrecht. Jedes zweite Wochenende dürfen die Geschwister Amy und Roberto miteinander verbringen. Beide Kinder „weinen und schreien“ jeweils am Sonntag Abend. Amy muss zurück zu ihrem Vater.

Magi will ein neues Leben anfangen. Sie will ihren Kindheitstraum verwirklichen. Sie übt und tanzt in der Ballettschule und merkt bald, dass sie mit 27 Jahren zu alt ist. Ihre neue Bühne wird die Luzerner Strassenfasnacht. Ihre Mutter hat einst Kleider für sie genäht: Tessinerli, Waggis, Negerli. Als Mädchen zieht sie mit einer Büchse von Tür zu Tür: „Spenden Sie für die armen Negerli in Afrika.“

10 Fasnachtspreise

An der Strassen-Fasnacht in Luzern spielt sie einen verklemmten Gnom. Er bewegt sich ungeschickt, krampft, entwickelt sich. Plötzlich wachsen Flügel und Magi hebt als schwebendes Wesen  mit drei Meter Spannweite ab. Aus dem schüchternen Obwaldner Mädchen wird eine Frau, die gerne provoziert. Als „Opulentia Dekadentia“ entblösst sie ihre drei Pappmaschee-Brüste. Als Transvestit zieht sie den roten Rock über die Hüfte und lässt ihn sofort wieder runterfallen. Bleistücke im Saum sorgen dafür, dass er rasch fällt.  Sie erscheint als Justitia mit einer Waage oder als Qualle. Als Südsee Beauty singt sie mit Kolleginnen. Mit einem Karussell auf dem Kopf wird sie zum Postkarten-Sujet. Zehnmal wird sie von den „Luzerner Maskenliebhabern“  als kreative Fasnachtsfigur ausgezeichnet. Drei Mal holt sie den ersten Preis, den „goldige Grend“. Als Frau mit zehn verschiedenen Masken, mit deren Hilfe sie sich immer wieder in eine andere Person verwandelt, entdeckt sie der Direktor des Stadttheaters. So kommt sie als Komparsin auf die Bühne in Goldoni’s „Diener zweier Herren“. Für 30 Franken pro Abend. 

Im Deux Chevaux von Schule zu Schule

Sind sie Lehrerin? wird Magi immer wieder gefragt, wenn sie sich für eine berufsbegleitende Ausbildung interessiert. Sie hat die Handelsschule besucht. Das reicht nicht.  So fragt auch die Kirchenmusikschule in Luzern:

„ Sind sie Lehrerin?“
„Scheissegal“ denkt sie und schwindelt: „Ich bin Kindergärtnerin“.
„Wo und von wem wurden sie ausgebildet?“ 
„In Menzingen, bei Schwester Annamaria“, dichtet sie.  

Das wird nicht überprüft. Sie absolviert die Ausbildung für musikalische Früherziehung. Und reist im Deux Chevaux von Gemeinde zu Gemeinde mit Klangstäben, Rasseln, und Tambourins für die Kinder.

Spieldosen Puppe

Auch ausserhalb der Fasnachtszeit tanzt Magi auf der Strasse. Als Porzellanpuppe steht sie auf einer Spieldose. Sohn Roberto zieht die Mechanik auf und die Frau im verblichenen altrosa Kleid steht starr und unbeweglich. Sie erwacht zu der Musik aus der Spieldose mit mechanischen eingeschränkten Bewegungen. „Ist sie eine Puppe, oder ein Lebewesen?“ fragen Zuschauerinnen. Die Nummer hat Erfolg. Zusammen mit einer Freundin zieht sie als Strassen-Künstlerin bis nach Neapel. Manchmal gibt es Probleme mit der Polizei. Jahre nach einem Auftritt in Venedig muss sie auf den Polizeiposten Horw. In der damaligen Wohngemeinde ist ein internationales Rechtshilfe-Gesuch eingetroffen: 500 Franken Busse, weil sie ohne Bewilligung in Venedig gespielt hat. Der Gemeinde-Polizist zerreisst den Brief ohne Kommentar und entsorgt die Fetzen im Abfall. Erfolg hat Magi bei Auftritten in der Schweiz. Als Spieldosen-Puppe sammelt sie auf der Strasse 800 Franken für Emil’s Luzerner Kleintheater. So kommt sie zur Stelle als Billet Verkäuferin. Sie wird im Stundenlohn bezahlt.

 Augusto zieht mit Amy und der neuen Gemahlin immer wieder an einen anderen Ort, ins Tessin und später (nach der Scheidung - mit der neuen Frau nach Rom. Mutter und Tochter sehen sich immer weniger. „Zum Glück trinke ich nicht und nehme keine Drogen“, sagt Magi. Sonst wäre ich abgestürzt.

Kontakt mit der Tochter auf Sparflamme: Spärliche Nachrichten via SMS und Facebook. Tochter Amy lebt in Rom. Sie arbeitet als Fotomodell, Schauspielerin, Serviertochter, Verkäuferin, Köchin. Sie tritt in Nebenrollen in Filmen auf. Amy nimmt das Telefon nicht ab, wenn die Mutter anruft. Irgendwann werde die Tochter sich melden, hofft Magi.

Amy bittet um Hilfe

Amy kocht auf einem Zweimaster für Touristen. Sie bietet zusammen mit ihrem Partner Segeltörns auf dem Mittelmeer an. Der Freund verstösst sie. Amy schreibt ihrer Mutter einen Brief per mail. Magi holt einen blauen Ordner. Da hat sie Fotos ihrer Tochter und den Brief von Amy abgelegt. Sie liest und übersetzt den Brief der damals 47 Jahre alten Tochter aus dem italienischen. „Mami ich muss vom Schiff flüchten, ich brauche dringend Geld.“ Amy bittet im Oktober 2015 um Unterstützung für den Transport ihrer Habe, 14 Boxen mit wahnsinnig viel Kleidern. Sie müssen von Formentera nach Rom. Amy entschuldigt sich dafür, dass sie nur Kontakt aufnimmt, um zu betteln: „Du bist eine aufgestellte Frau. Als Mutter von mir hast Du versagt. Ich verstehe nicht, warum Du mich verlassen hast. Man kann nicht wieder gut machen, was nie existiert hat.“ Augusto hat Amy offenbar gesagt, Magi habe sie als Kind verlassen und allein in ihrer Wohnung zurückgelassen.

Magi liest und übersetzt ihren Antwort Brief. „Ich stehe oft am Fenster, schaue in den Süden und denke an Dich. Hoffend, dass irgend ein Wunder Dich zurück bringt. Du warst das schönste Kind, das ich je gesehen habe, brav und aufgeweckt. Du warst das Opfer einer unglücklichen Beziehung.  Ich war sicher, die Justiz würde dich wieder holen. Es war meine Schuld. Ich kann Dich nur um Verzeihung bitten. Ich war schwach. Ich bin keine Löwin. Mir fehlte der Mut und die Energie.“ Wie geht es Magi, wenn sie diesen Briefwechsel vorliest? „Ich habe das Drama verdrängt“, antwortet sie. Magi schickt Geld. Vom wenigen, das sie hat. Amy bedankt sich, sie wiege nur noch 48 Kilo, sie sei seelisch verletzt und wolle nicht reden.

Hast Du noch Spaghetti?

Fünf Jahre später, im März 2020, während dem Corona Lockdown in Rom, schreibt Magi ihrer Tochter auf Facebook: 

„Hast Du noch genügend Spaghetti, Amy“?
„Es reicht für ein bis zwei Wochen.“

Magi lebt von einer reduzierten AHV-Rente, 143 Franken Pension und Ergänzungs-Leistung. Sie schickt Geld nach Rom. Amy bedankt sich: „Langsam erhole ich mich, aber ich habe keine Lust zum Reden. Mir fehlt die Energie.“

Augusto ist 2016 gestorben. Magi ist froh: «Ich hatte Angst vor ihm. Jetzt bin ich sicher, dass er nicht plötzlich vor der Türe steht.» Seine Tat wirkt nach. Der Raub der Tochter verstört die Beziehung immer noch - nach 50 Jahren. 

(*) Namen von Sohn und Tochter geändert.

14. Dezember 2020