Kolumnistin und Linguistin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Wasserfrau und Jungmann

Von Helen Christen

«Ich bin halt ein Zwilling», wird die Verspätung entschuldigt. «Skorpion und Stier gehen halt nicht zusammen», wird die bevorstehende Scheidung beschönigt. Das «halt» fungiert als Kürzel für ein Ursache-Wirkungs-Prinzip, das mir beim besten Willen nicht einleuchten will. Die Konstellation von Sonne, Mond und Planeten zum Geburtszeitpunkt soll den Menschen mit einem Charakterkostüm ausstatten, das er nicht etwa wie ein Kleidungsstück ablegen kann, sondern ihm anhaftet, über Schwächen und soziale Verträglichkeiten bestimmt? Gedeih und Verderben in den Sternen?

Seien es die jungsteinzeitlichen Baumeister von Stonehenge, seien es die frühen Astrologen-Astronomen Mesopotamiens, seit je blicken die Menschen ins Firmament und versprechen sich vom Himmel Erklärungen für Gegenwärtiges und Vorhersagen von Zukünftigem. Die bis in babylonisch-hellenistische Zeitalter zurückgehenden zwölf Tierkreiszeichen sind frühen astronomischen Berechnungen zu verdanken, die ein zugegeben faszinierendes chaosglättendes Ordnungssystem begründen, das nicht nur den Menschen, sondern alles Irdische überhaupt einschliesst – Tiere, Pflanzen, Steine, Farben oder die damals als eine Art von Urstoffen betrachteten vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde.

Die zwölf Tierkreiszeichen, wie sie uns bis heute auf Bettwäsche, Teetassen oder tätowierten Körpern begegnen, haben ein Auf und Ab des Zuspruchs oder der Missbilligung hinter sich: vom unverzichtbaren Unterrichtsgegenstand an mittelalterlichen Hochschulen über das zeitgeistige 68er-Aquarius-Musical «Hair» («When the moon is in the 7th house ...») zu aktuellem Zuckersäckli-Bildungsgut.

Dunkle Tage gibt es immer
Das Verführerische an den Sternzeichen ist, dass sie eine gäbige Handreichung liefern sowohl zur Selbstfindung als auch zur Einschätzung der Mitmenschen. Die Zwölfer-Einteilung reduziert die unüberschaubare Vielfalt an Charakterzügen auf eine überschaubare Zahl von Schubladen, die menschliche Eigenschaften offerieren, unter denen sich immer etwas Passendes für einen sinnstiftenden Aha-Effekt findet: «Ich bin sehr grosszügig; der Geiz meiner Kollegin geht nicht auf ihre eigene Kappe, folglich keinesfalls persönlich zu nehmen.»

Insider verbleiben allerdings nicht bei simplen Schützen und Waagen, sondern es kommen differenzierende Aszendenten und Häuser ins Spiel. Trotz wissenschaftlicher Anmutung solch präzisierender Zugänge – ein Zusammenhang von Positionen von Himmelskörpern und menschlichen Charakterzügen konnte bisher nicht erhärtet werden. Oder ist es tatsächlich mit planetarischen Verschiebungen im Zeitraum von fünf Minuten zu erklären, dass die eineiigen Zwillinge Hans und Heiri so unterschiedlich ticken? Warum gibt es noch kein Start-up, das Schwangeren den Gebärort anbietet, dessen Himmelskonstellation für den errechneten Geburtszeitpunkt ein, wie bestellt, fröhliches Kind und einen später grossherzigen Erwachsenen garantiert? Unsicheres Geschäftsmodell halt.

Auf wackligem Fundament steht auch die prognostische Abteilung der Astrologie. Den Lackmustest Corona-Krise und Banken-Crash haben die Astrologinnen und Astrologen jedenfalls gehörig versemmelt. Dabei hätte sich hier eine einhellig warnende Sternenkunde wahre Verdienste erwerben können. Klar, es werden immer auch dunklere Tage vorausgesagt; diese treffen auch zuverlässig ein, notfalls gibt es – um die Stimmigkeit der Prophetie zu untermauern – in Italien einen Regierungswechsel oder die Gilets jaunes gehen für die 20-Stunden-Woche auf die Strasse oder Sanna Marin tanzt in der Disco.

Ein Alibi für Launische
Der Wunsch, Halt und Ordnung in eine unergründliche Welt zu bringen und auf die ungewisse Zukunft wenigstens ein klein wenig vorbereitet zu sein, ist nur allzu menschlich, Nachsicht für irrationale Ursache-Wirkungs-Ketten also geboten. Spöttelei ist eigentlich allein schon deshalb nicht angebracht, weil wir alle für Unerklärliches ein paar private Deutungsmuster parat haben, die bei Lichte besehen auch keinen Staat machen könnten.

Und was die Himmelskörper betrifft: Der Mond schafft es immerhin, Meere zu bewegen, Hunde zum Bellen und Menschen um den Schlaf zu bringen. Allerdings liegt der Erdentrabant seit dem 21. Juli 1969 zumindest für Elon Musk in naher Flugdistanz, und man kann sich hier die Kräftefelder, die für Stimmungsschwankungen sorgen könnten, mit etwas Schulbuchphysik noch halbwegs ausmalen. Launischen Menschen (zu lateinisch «luna», «Mond»!) sei also ein Himmels-Alibi zugestanden.

14. Mai 2023 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.