Christen und Muslime

von Judith Stamm, Luzern

Miteinander, notfalls nebeneinander, aber lieber nicht gegeneinander, sollten die Religionsgemeinschaften in unserem Lande aktiv sein und leben.
 

Vor einiger Zeit hatte ich einen Bericht darüber in der Basler Zeitung gelesen. Am letzten Sonntagabend erhielt das Thema in den Abendnachrichten von Radio SRF 1 seinen Platz. Es geht um einen katholischen Pfarrer in Basel, der in seinem Pfarreiheim Räume für den Religionsunterricht für muslimische Kinder zur Verfügung stellt. Im einen Stock für etwa acht Mädchen, im Stock darüber für einige Knaben. Die Sprache des Koranlehrers, der zu Wort kam, war baseldeutsch gefärbt. Das Handeln des Pfarrers, die Zulässigkeit, war Traktandum in der katholischen Synode.  Ein Entscheid wird im Herbst gefällt.

Woran mich das und andere Fragestellungen im Verhältnis von Christen und Muslimen erinnert? An meine Jugend als Diasporakatholikin in Zürich. An die Zeit zwischen 1934, meinem Geburtsjahr, und 1960, als ich berufshalber nach Luzern zog. Als Landeskirche anerkannt wurde die katholische Kirche in Zürich erst 1963. Vorher war sie nicht mehr als eine „Sekte“. So wurde mir einmal auf dem Sekretariat der Universität Zürich beschieden. Mein Anliegen war, eine Liste der zugezogenen katholischen Studierenden zu bekommen, um sie ins katholische Akademikerhaus einzuladen. Ich bekam die Liste nicht.

Erwähnen muss ich noch, dass mein Vater reformiert war. Meine Mutter war Katholikin aus dem Kanton Luzern. Aus einem „liberalen Haus“, wie immer betont wurde, ohne dass ich als Kind  verstanden hätte, was das heissen sollte. Mein Vater praktizierte nicht. Das religiöse Gedankengut meiner Mutter erfüllte die Familie. Heute noch überkommt mich ein warmes Gefühl, wenn ich daran denke, dass mein Vater mich am Tag der Erstkommunion in die Kirche begleitete. Heute noch überkommt mich ein  grosses Unverständnis über die angebliche Bemerkung einer reformierten Tante, meine beiden Brüder seien als Kinder gestorben, weil sie katholisch getauft worden seien!

Bildeten wir Katholiken damals in Zürich eine „Parallelgesellschaft“? Bei gewissen aktuellen Diskussionen über Muslime denke ich, dass viele Reformierte damals mit den Katholiken ähnliche Schwierigkeiten hatten, wie heute die Christen mit den Muslimen. Dass auch die Katholiken christliche Wurzeln hatten, machte die Sache nicht besser. Im Gegenteil. Der „politische Katholizismus“, der seine Instruktionen dem Vernehmen nach aus Rom bezog, war zu verabscheuen.

Ich besuchte dann das Gymnasium an der Höheren Töchterschule der Stadt Zürich.

Entgegen der Voraussage eines katholischen Geistlichen verlor ich meinen Glauben an dieser Schule nicht. Sondern stählte ihn in hitzigen Debatten mit meinen Mitschülerinnen. Das Fass zum Überlaufen brachte die Heiligsprechung des Bruder Klaus im Mai 47. Das war kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Es war auch meine Überzeugung, dass Bruder Klaus „allen“ gehörte. Wie zwei Kampfhennen gingen eine reformierte Mitschülerin und ich vor der Klasse aufeinander los. „Ihr habt uns den Bruder Klaus gestohlen“ warf sie mir vor.  „Der Papst hat das Recht, ihn heilig zu sprechen“, war meine Gegenrede. Erst viel später verstand ich, was für ein Affront das für viele Reformierte gewesen sein muss, dass  diese in der Schweiz allseits anerkannte Persönlichkeit des Bruder Klaus entfremdet und „zur Ehre der katholischen Altäre erhoben worden war“!

Wir hatten eine kluge Deutschlehrerin, die mit uns das Stück „Nathan der Weise“ von Lessing las und uns motivierte, uns mit der Ringparabel intensiv zu beschäftigen. Wir hatten auch eine Französischlehrerin, die einmal äusserte, dass sie nicht verstehen könne, wie ein intelligenter Mensch katholisch sein könne. Das focht mich nicht weiter an. Ich fühlte mich in meiner Klasse gut aufgehoben und wurde sogar mit dem Amt der Klassensprecherin betraut. Bald war ich auch Mitglied einer ökumenischen Gruppe, in der wir uns intensiv den Gemeinsamkeiten und den Differenzen der beiden Konfessionen widmeten. Eine neue Eiszeit brach herein, als im November 1950 von Papst Pius XII. das Dogma der leiblichen Aufnahme Marias in den Himmel verkündigt wurde. Ich bin überzeugt, dass wir Katholiken damals vielen Reformierten so fremd waren, wie „uns Christen“ heute die Muslime sind.

Meine Erfahrungen sagen mir, dass es nicht leicht sein wird, das „Miteinander“ zu erarbeiten. Besonders nicht im aktuellen internationalen Kontext. Es geht nur mit Offenheit und gutem Willen, von Mensch zu Mensch, Schritt für Schritt. Geduld ist gefragt und das Weitermachen nach Rückschlägen.

Wie sagen wir doch in der Politik? In der Schweiz sind wir zur Konkordanz verdammt. Ähnliches gilt für Religionen, Konfessionen, Glaubensgemeinschaften!

Luzern, 21. April 2016

Zur Person
Judith Stamm,
geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.