BildGeschichte 5/2016

Kantönligeist

Von Erika Frey Timillero

Einer der sonntäglichen Höhepunkte meiner frühen Kindheit war der Besuch der Verwandten auf dem Land, genauer in Trien­gen. Alles war anders dort als bei uns in der Stadt. Unser Onkel und unsere Tante wohnten mit ihren fünf Kindern in einem grossen, alten, verwinkelten Haus, ein phantastischer Ort zum Versteckspielen. Der Mittelpunkt der Stube war ein grüner Kachelofen, auf den man sich setzen und im Winter wärmen konnte. In der Küche stand ein langer Tisch, an dem mindestens zwölf Personen essen konnten, gekocht wurde mit Holz. Doch noch aufregender als der Besuch selber war die Fahrt mit der Sursee-Triengen-Bahn, deren Ungetüm von einer Dampflok kohlrabenschwarzen Rauch in den Himmel spie und spuckte. Viele Jahre später erzählte uns der Onkel die kuriose Geschichte der Bahn – ein anschauliches Lehrstück darüber, wohin der Kantönligeist führen oder eben nicht führen kann.

Ursprünglich hätte die Bahnlinie durch das Surental von Aarau über Schöftland und Triengen bis nach Sursee, also über die aargauisch-luzernische Grenze führen sollen. Doch die beiden Kantone konnten sich nicht über Spurweite und Traktion einigen. Nach jahrelangem Geplänkel nahmen die Aargauer 1901 eine Schmalspurbahn von Aarau nach Schöftland in Betrieb. Die Luzerner folgten 1912 mit einer Normalspurbahn von Sursee nach Triengen. Die Lücke zwischen Schöftland und Triengen wurde wegen der unterschiedlichen Spurweite der beiden Bahnen nie geschlossen, eine Angleichung wäre viel zu teuer gekommen. Ab 1924 dann verkehrten Postautos zwischen Schöftland und Sursee, und viel später, 1971, wurde schliesslich ein Busbetrieb zwischen den beiden Dörfern aufgenommen.

Aber was kann man schon von zwei Kantonen erwarten, meinte mein Onkel, die sich nicht mal über die Schreibweise des Tals einigen konnten, durch das die Bahn hätte fahren sollen: Für die Aargauer ist es auch heute noch das Suhrental, für die Luzerner das Surental. - 3. Mai 2016

Erika Frey Timillero (1951) arbeitet als selbständige Übersetzerin und Lektorin in Luzern. Bis vor zwei Jahren war sie ausserdem als Kursleiterin für Deutsch als Fremdsprache tätig. Nebenbei engagiert sie sich ehrenamtlich für den Chor der Nationen Luzern und ist dort für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. - Bild: Christian Barmettler