BildGeschichte 11/2016

Schletzer und Jäger

Von Hans Beat Achermann

Die Jagd begann 1965. In diesem Jahr wurde ich 18 – das verlangte Eintrittsalter, um an den damaligen Internationalen Musikfestfestwochen IMF als Platzanweiser oder als Schletzer tätig sein zu dürfen. Letztere hatten das Privileg, den vor dem alten Kunsthaus vorfahrenden Limousinen die Türen aufzureissen, pelzbewehrten Damen notfalls beim Ausstieg behilflich zu sein und dann die Türe wieder zuzuschletzen, egal, ob es ein Fiat Cinquecento oder ein Rolls Royce Phantom V war. Der Lohn folgte anschliessend – die meist stehende Anhörung eines Konzertes, das ehrfürchtige Lauschen  und anschliessend in der Pause das Fachsimplen mit den erfahreneren Anweisern. Weibliche Hilfskräfte waren damals noch keine zugelassen, schliesslich war auch das Frauenstimmrecht noch nicht eingeführt.

Nach dem anstrengenden und meist erbaulichen  Zuhören folgte nach dem Schlussapplaus der Gang in die Katakomben, in die verborgenen Räume der Künstler- und Solistenzimmer, wo hinter einer verschlossenen Tür der Star den Schweiss der Dirigierens oder des solistischen Musizierens mit einem weissen Frotteetuch wegwischte und bereits den obersten Knopf des - Vatermörder genannten  - Hemdkragens geöffnet hatte. Damals trugen die musizierenden Herren fast alle noch Frack und drapierten beim Klavierspiel die Schwalbenschwänze säuberlich hinter dem Klavierstuhl, so wie es Maurizio Pollini immer noch macht.

Begrenzte Begeisterung

Für uns junge Platzanweiser und für ein paar meist ältere Konzertbesucherinnen begann nun draussen vor der Tür das lange Warten, bis sich von innen die Tür öffnete und man Einlass fand ins fensterlose Gemach, um ein paar Augenblicke später stolz mit einer kaum lesbaren Unterschrift des Maestros oder der Primadonna, meist ins Programmheft gekritzelt, wieder hinauskomplementiert zu werden. Denn nicht alle hatten Freude, wie sich der Dirigent George Szell 1969 beim damaligen IMF-Präsidenten Alois Troller beschwerte und Massnahmen forderte,  „damit das jetzige Tohuwabohu von Besuchern, Fotografen, Presseleuten, Autographenjägern etc., die sich ungehemmt herumtummeln, vermieden werde. Überhaupt vermisse ich einen verantwortlichen Türwächter mit zweckdienlichen Instruktionen an der Künstlerzimmertüre wie auch Überwachung und Pflege der, sagen wir, hygienischen Räumlichkeiten."

Meine Jagd nach „Autographen"  flaute mit jedem Jahr ab, was sich an den aufbewahrten Programmheften ablesen lässt. Wahrscheinlich hatte das Jahr 1968 seine Spuren hinterlassen und die Bewunderung von (musikalischen) Autoritäten liess nach. Jetzt, über 50 Jahre später, blättere ich in den Heften, bin ich wieder ein bisschen stolz auf die Jagdtrophäen, unter denen sich als prominenteste Autographen die von Rubinstein und Karajan befinden. Rafael Kubelik (siehe Bild) ist auch dabei, aber George Szell fehlt.

Das undatierte Bild aus dem Archiv des Lucerne Festival zeigt den Dirigenten Rafael Kubelik mit jugendlichen Autogrammjägern. (Copyright Lucerne Festival)

Hans Beat Achermann (1947) arbeitete bis zur Pensionierung als Berufs- und Laufbahnberater. Vorher war er als Lehrer, Korrektor, Lektor und Journalist (LNN, Regionaljournal) tätig. Er ist in der Redaktionskommission der Seite www.luzern60plus.ch und beim Forum luzern60plus aktiv.