Guido Huser, 68, ist wie einige der Protagonisten im Film «Hexenkinder» im Kinderheim in Einsiedeln aufgewachsen.

Das Leben als Achterbahn

Er macht einen stattlichen Eindruck, wenn er mit Krawatte, Hut und Stock unterwegs ist. Guido Huser wohnt als Pensionär im Haus Mythen des Betagtenzentrums Viva Luzern Dreilinden und meint zufrieden: «Ich bekomme hier alles, was ich brauche, und muss mich um nichts sorgen.» Er erzählt gerne und erinnert sich selbst an Details seines nicht einfachen Lebens.

Von Monika Fischer (Text und Foto)

Was er von den Eltern weiss, hat ihm die zehn Jahre ältere Schwester Martha erzählt. Sie arbeitete als Betreuerin für die kleinsten Kinder im Kinderheim Einsiedeln, wo er als jüngstes von sieben Kindern aufgewachsen ist. «Die Eltern wollten mich Kurtli nennen. Schwester Guido, die Leiterin der Kleinkinderabteilung, bestand darauf, dass ich nach ihr genannt wurde: Guido Josef.»

Einzig der älteste Bruder wohnte eine Zeitlang bei den Eltern. Doch waren der alkoholkranke Vater und die labile Mutter nicht in der Lage, die Kinder selbständig aufzuziehen. Alle kamen ins Kinderheim, eine Schwester wurde adoptiert. Auch Guido sollte adoptiert werden. «Sie erzählten mir, dass ich wegen Heimweh immer nur geweint hätte. Deshalb wurde ich wieder zurück gebracht.» Die Eltern besuchten die Kinder in den kurzen Besuchsstunden. «Doch konnte ich zu ihnen keine Beziehung aufbauen. Die Verantwortlichen des Heims unterstützten dies auch nicht.»

Schläge mit der Haselrute

Ausser zu seiner grossen Schwester, die er liebevoll «Martheli» nennt, hat er zu seinen anderen Geschwistern keinen Kontakt. Martha war für ihn im Heim eine Art Ersatzmutter. «Ich vertraute ihr. Sie hat mir oft geholfen.» Er berichtet von lieben und von bösen Schwestern, die hart durchgegriffen haben. Sie waren streng auch mit den kleinen Kindern, den «Springerli» zwischen Kleinkind und Kindergarten. Es gab Schläge mit der Haselrute, wenn wir laut schrien und lärmten.

«Wenn wir nicht gehorchten, straften sie uns hart. Sie packten uns, brachten uns in die Waschküche und hielten unseren Kopf unter Wasser. Wir konnten uns nicht wehren, waren ausgeliefert und konnten nur schreien. Es war halt einfach so, ich kannte ja nichts anderes.» Später gab es auch andere Strafen, wenn die Kinder frech und grob waren. «Wir mussten zum Beispiel zwanzigmal den Satz ,Ich soll nicht streitsüchtig sein’ schreiben.» Er erinnert sich wohl auch an lustige Ereignisse, doch nicht an liebevolle Erfahrungen. «Was war Liebe in einem Kinderheim? Wenn man etwas bekam, dann zum Beispiel eine Tafel Schokolade.»

Wie ein Häufchen Elend

Die Schule besuchten die Heimkinder im Dorf. Aus dieser Zeit ist Guido Huser ein Ereignis besonders in Erinnerung geblieben. Er schildert es bis ins letzte Detail. Zwei Mitschüler forderten ihn zu einer Mutprobe heraus. Er, der noch nie ein Velo bestiegen hatte, sollte damit eine Strasse hinunterfahren. Er hatte keine Chance, stürzte auf den Kopf und blutete stark. Die Mitschüler liessen ihn liegen und drohten, er dürfe es niemandem erzählen. Ein anderer Schulkollege half ihm, eine Frau brachte ihn zum Arzt. «Ich sass wie ein Häufchen Elend im Wartezimmer und wartete und wartete. Schliesslich kam ich als letzter dran, wurde genäht und verbunden. Zurück im Heim schickten mich die Schwestern sofort in Bett, da ich noch eine Hirnerschütterung erlitten hatte.» Rückblickend hat er jedoch nicht den Eindruck, dass er von anderen Buben geplagt wurde, im Gegenteil: «Ich hatte es gut mit den Kollegen.» Geblieben bis heute ist die Freundschaft mit dem um ein Jahr älteren Ruedi. «Wir schreiben und telefonieren uns, er besucht mich auch hier regelmässig.»

Nach der Primar- besuchte Guido Huser zwei Jahre die Werkschule. Der Besuch der Sekundarschule war für die Heimkinder nicht vorgesehen. Mit 13, 14 Jahren musste er häufig um 5 Uhr früh aufstehen, um im Kloster zu ministrieren. «Manchmal an verschiedenen Altären bei drei bis fünf Messen nacheinander. Es war jeweils ‘en chorze Chut’, lasen die Priester doch ihre Messe auf lateinisch.» Für den Messedienst erhielt er meistens zwei Franken. «Im Kinderheim mussten wir die Säcke leeren, das Geld wurde uns abgenommen. Es war einfach so, wir konnten nichts machen. Manchmal konnte ich ein paar Münzen verstecken und eine Schoggi kaufen.»

Es gefiel ihm, als er in der 7. und 8. Klasse in der Freizeit und am Wochenende in der Bäckerei Kälin arbeiten konnte, besonders am Sonntag, wenn er Torten verzieren durfte, liebte er doch das Zeichnen. Vor allem mit Kohle zeichnete er sehr gerne. Er war stolz, wenn der Lehrer ihn rühmte und seine Zeichnungen im Schulzimmer aufhängte. Einem Kollegen berichtete er von seinem grossen Wunsch, Kunstmaler zu werden. Dieser riet ihm, als Grundlage Flachmaler in Zürich oder Luzern zu lernen. Er entschied sich für Luzern, fand eine Lehrstelle und ein Zimmer im Lehrlingsheim Klemens.

Endlich frei und selbständig

Noch heute schwärmt er von seinem Spaziergang am ersten Tag am Rotsee: «Es war für mich ein Highlight, frei zu sein und allein spazieren zu gehen. Später lernte ich im See schwimmen.» Nach Lehrabschluss wohnte er ein paar Jahre mit einer Freundin zusammen, bis sich die Wege wieder trennten. Bei der Firma Castelli an der St. Karlistrasse bildete er sich zum Schriftenmaler weiter. Er hoffte, damit seinem grossen Ziel näher zu kommen. Doch war es schwierig, in diesem Fachgebiet eine Arbeit zu finden. «So verdiente ich an verschiedenen Stellen meistens als Flachmaler meinen Lebensunterhalt und schlug mich mit Ach und Krach durch.» Die Heirat mit Naida brachte ihm wenig Glück. Sie kehrte bald in ihr Heimatland Serbien zurück, wo auch Sohn Adrian geboren wurde. Guido Huser hat sein Kind nur kurz gesehen. Es kam in ein Kinderheim und wurde später adoptiert. «Ja, das ist tragisch», meint er still. Unterstützung fand er immer wieder bei seiner Schwester Martha, die mit ihrer Familie ebenfalls in Luzern wohnte und vor 20 Jahren starb.

«Hier fühle ich mich wohl»

Schon während seiner Lehrzeit war er erstmals psychisch erkrankt. Später bekam er einen Beistand und weilte nach einem Suizidversuch einige Zeit in der Klinik St. Urban. «Doch habe ich mich immer wieder aufgerappelt. Die Zeugen Jehovas halfen mir, wieder eine Wohnung und eine Arbeit zu finden. Doch konnten sie mich ebenso wenig für ihre Sache vereinnahmen wie früher die Schwestern im Heim.»

Seit fünf Jahren wohnt Guido Huser im Dreilinden. Eine Zeitlang beschäftigte er sich wie schon früher intensiv mit Malen. Um die 125 Bilder hat er in einem Lager eingestellt. Er steht früh auf und hat immer etwas zu tun. Langweilig ist ihm nie. Er pflegt Brieffreundschaften, musiziert, jasst, schreibt. Zufrieden hält er fest: «Hier fühle ich mich wohl, ich bin besser betreut als je. Es gab wohl Zeiten, wo ich mir ein anderes Leben gewünscht hätte, gleicht doch mein Leben mit dem ständigen Auf und Ab und vielen Ungewissheiten einer Achterbahn. Doch heilt die Zeit alle Wunden. Vor allem bin ich dankbar und glücklich, dass ich nie straffällig wurde wie einige meiner Kollegen.» - 6.9.2020

monika.fischer@luzern60plus.ch