
Der 90-jährige Mario Schneeberger Mitte Oktober an einer Jam Session in der Louis-Bar im «Montana».
Alt-Saxophonist im hohen Alter
Der Jazz begleitete ihn ein langes Leben lang. Und noch immer tritt der studierte ETH-Ingenieur und Informatiker Mario Schneeberger regelmässig auf, auch mit 90.Von Hans Beat Achermann (Text und Bild)
Unser erstes Gespräch fand im Bus statt, per Zufall, zwei Tage vor unserem telefonisch vereinbarten Interviewtermin. Ich hatte ihn nur dem Namen nach gekannt und von Bildern, die ich beim Googlen fand. Mario Schneeberger war unterwegs nach Basel, wo er immer noch einen zweiten Wohnsitz hat in der elterlichen Wohnung. Er lieferte bereits erste Stichworte: Der bevorstehende 90. Geburtstag, eine Reise im Frühjahr nach St. Petersburg, der autodidaktische Einstieg in die Jazzmusik mit dem Altsaxophon. Am folgenden Tag werde er einen Jazzvortrag in Grandson besuchen, überhaupt sei die Agenda im Moment ziemlich voll. Und am übernächsten Tag stand die wöchentliche Jam Session im Hotel Montana auf dem Programm. Mit Schneeberger als immer noch aktivem Jazzer.
Im Herzen Basler geblieben
Zwei Tage später trafen wir uns wie vereinbart im Museumscafè im KKL. Nach dem zweistündigen Gespräch bot er mir das Du an, im unüberhörbaren Baseldytsch. Auch wenn er seit bald sechzig Jahren in Luzern lebt, fühlt er sich immer noch als Basler. In Basel ist er als Einzelkind aufgewachsen, in Basel hat er den Jazz entdeckt, die Matura gemacht, als Neunjähriger im März 1945 den Bombenangriff der Alliierten auf die Rheinstadt erlebt. Die Bomber hätten eigentlich auf das badische Freiburg abgeworfen werden sollen, doch die US-Piloten verfehlten das Ziel. «Und plötzlich hat es Bumm gemacht und alles hat gezittert», erinnert er sich in einem Fernsehbeitrag. Das Erlebnis hat er auch in einem Schulaufsatz niedergeschrieben. Im Gymi liebte er Mathematik, gehörte zu den Besten, Sport war weniger sein Ding. Bei der militärischen Aushebung wurde er zurückgestellt, weil sein Brustumfang zu gering war. In der Schüler-Fussballmannschaft war er Ersatz, Schulkollege Mäni Weber, der spätere Fernsehmoderator, stand im Tor. Mario studierte zuerst Chemie, wechselte dann an die ETH und schloss ein Studium als Betriebsingenieur ab. Ende 1968 fand er eine Stelle in der damals noch neuen elektronischen Datenverarbeitung bei Schindler in Ebikon, später bei Nielsen in Buchrain, bevor er zur damaligen Bankgesellschaft in Zürich wechselte und bis zur Pensionierung zwischen Luzern und Zürich pendelte. Als einer der ersten Informatiker wurde er Systemanalytiker, später Senior Analyst.
Lieber River statt Bach
Zur Musik fand er zuerst über das Klavier. Die Eltern waren nicht besonders musikalisch, der Vater spielte Mandoline und ein bisschen Klavier. Jazz hörte man nicht. «Eine Grosstante war Pianistin in Riga und leitete dort in einem Stummfilmkino ein Orchester.» Nach drei Jahren Klavierunterricht und nach missglückten Versuchen mit Bach war die Piano-Karriere zu Ende. «Ich hätte lieber ‹An den Ufern des Mexiko River› gespielt», erinnert sich Mario lachend. Durch seinen Schulkollegen Bruno Spörri, der später ein bekannter Saxophonist, Komponist und Festivalleiter wurde, fand Schneeberger zum Jazz und zum Saxophon. Unterricht nahm er keinen, was offenbar kein Nachteil war. Denn schon bald spielte er in verschiedenen Bebop-Formationen. Im Hot Club in Basel hatte er die richtigen Kontakte geknüpft. 1965 wurde er am Zürcher Jazzfestival als «absolut bester Solist» ausgezeichnet. Er gewann eine Reise nach Mexiko. Es folgten unzählige Auftritte in verschiedenen Formationen, Konzerte und Tonträgeraufnahmen mit fast allen Schweizer Jazzgrössen der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Ein Wikipedia-Eintrag samt Diskografie belegt das Wirken und die Bedeutung von Mario Schneeberger.
Deutschlandfunk statt Fernseher
Jetzt, sechzig Jahre später, blickt er auf eine erfolgreiche berufliche und nebenberufliche Karriere zurück. Der Computer hat eine wichtige Rolle behalten, jetzt als Kommunikations- und Informationsmedium. «E-Mail und Wikipedia benutze ich fast täglich», sagt er, aber ein Smartphone besitze er nicht, bloss ein Handy zum Telefonieren und Fotografieren. In der Wohnung steht auch kein Fernseher. Musik hört er auf Deutschlandfunk, nachdem bei SRF die UKW-Sender abgeschaltet wurden. Das Saxophon ist nach wie vor im Einsatz. «Ich habe immer noch genug Puste und auch die Finger machen mit», stellt er fest. Einzig ein weicheres Blatt verwende er jetzt mit 90. Haben sich seine Jazzvorlieben geändert? «Eigentlich nicht. Beim Free Jazz fehlt mir der Boden.» Er bevorzuge nach wie vor den geerdeten Bebop. Diesen pflegt er weiterhin. Wenn immer möglich jeden Donnerstagabend an der Jam Session im «Montana» in Luzern und einmal monatlich im «Alten Zoll» in Basel.
Im Frühjahr ist seine Frau verstorben, jetzt haushaltet er alleine. Sie hatten noch eine Reise nach St. Petersburg gebucht, wollten endlich die Ermitage besuchen. Zur Vorbereitung hatte er Russisch-Unterricht genommen. Auf die Reise hat ihn dann eine seiner beiden Töchter begleitet.
Neugier, Humor und gesunder Menschenverstand
«Manchmal frage ich mich, wie ich so alt geworden bin», stellt er die Frage, bevor ich ihn selber fragen kann. Er hat für sich eine Antwort: «Ich bin neugierig, interessiere mich für vieles.» Die Liste seiner Interessen ist gross: Musik und Musikgeschichte natürlich, aber auch Bildende Kunst, Eisenbahnen, Schiffe, Biologie, das Weltgeschehen, Geschichte gehören zu seinen Interessen. «Das Zweite ist der Humor und das Dritte der gesunde Menschenverstand.» Mario. Schneeberger verabscheut das verbreitete Schwarz-Weiss-Denken, bevorzugt wie in der Musik auch in Diskussionen und in den Medien Zwischentöne.
Eine heftige Lungenentzündung hat er dieses Jahr gut überstanden, jetzt freut er sich auf den runden Geburtstag, den er am 9. November in Basel im Freundeskreis feiert. Auch Bruno Spörri wird dabei sein, samt Saxophon.
Mario nimmt einen letzten Schluck Cola. Wir verabschieden uns vor dem KKL. Die anfängliche Zurückhaltung ist einer Herzlichkeit gewichen. Zehn Minuten später treffen wir uns an der Bushaltestelle beim Bahnhof wieder. Mario hat seine frisch gewaschenen und gebügelten Hemden in der Unterführung abgeholt. Noch einmal zeigt sich sein spezieller Humor, als er auf mich zukommt und sagt: «Kennen wir uns nicht von irgendwoher?» Im Bus geht das Gespräch weiter und beinahe verpasse ich den Ausstieg. «Auf Wiedersehen im Montana, Mario!»
19. Oktober 2025 – hansbeat.achermann@luzern60plus.ch