Wer ohne Familie lebt, kann nicht unbedingt mit der nötigen Betreuung rechnen.

Ein gutes Leben im Alter kann ohne
enge Familienangehörige schwierig sein

Rund 140'000 Frauen und Männer können im Alter auf keine familiäre Unterstützung zählen. Betroffen sind vor allem Frauen, die ohnehin mit tieferen Renten leben müssen. Was bedeutet das für die Betreuung?

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

In der Schweiz werden ältere Menschen oft durch Familienangehörige unterstützt, die im gleichen Haushalt leben. Diese familiäre Sorgearbeit macht 42 Millionen Stunden pro Jahr aus. Doch fast zehn Prozent der über 65-Jährigen müssen ohne engere Familieneinbettung auskommen, das sind aktuell rund 142'000 Personen. So haben rund 43 Prozent aller 70- bis 80-jährigen Frauen keinen Partner oder keine Partnerin und keine Kinder. Bei den Männern sind es knapp 20 Prozent. Dazu kommt, dass Frauen oft mit tieferen Renten auskommen müssen und sich keine selbst bezahlte Zusatzhilfe leisten können. Was bedeutet dies für die künftige Alterspolitik?

Alleinsein heisst nicht Einsamkeit
Bisher war in der Schweiz kaum erforscht, wie Rentnerinnen und Rentner ohne betreuende Familienangehörige das Leben zu Hause bewältigen. Deshalb haben acht Schweizer Stiftungen – unter ihnen die Age-Stiftung, das Migros-Kulturprozent sowie die Paul-Schiller- und die Walder-Stiftung – eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, um diese fragile Lebenslage zu erhellen. «Wir wollen mehr Wissen über Lebenssituationen und Lebenswege von älteren Personen ohne betreuende Familienangehörige generieren», sagt die Koordinatorin Cornelia Hürzeler vom Migros-Kulturprozent. «Damit leisten wir einen Beitrag zur Debatte, wie gute Betreuung im Alter aussehen soll.» Bis 2040 wird die Zahl der 65-Jährigen voraussichtlich um die Hälfte zunehmen, die Zahl der über 80-Jährigen dürfte sich fast verdoppeln.

Für die Betreuung und Pflege älterer Menschen ist diese rasche Zunahme eine grosse Herausforderung. Ruth Egger ist 94 Jahre alt, seit mehr als 60 Jahren lebt sie in einem Einfamilienhaus, in dem sie unter allen Umständen bleiben möchte. Sie hat sich von ihrem Mann getrennt, der Kontakt zu den Kindern ist nicht gut. Nur die ältere Tochter ruft gelegentlich an. Frau Egger hat schwerwiegende Rückenprobleme, ist aber noch relativ mobil und autonom und kümmert sich selbst um ihren Haushalt und ihre Einkäufe. Die Nachbarn helfen gelegentlich im Garten, sonst erhält sie keine Unterstützung. Dieses fiktive Beispiel aus der Studie veranschaulicht die eher prekäre Lebenssituation von älteren Personen ohne betreuende Familienangehörige. Allerdings fühlen sich nicht alle, die alleine leben, auch einsam. Denn diese Altersgruppe ist sehr heterogen. «Während einige ältere Menschen sich in ihrer Situation grundlegend wohlfühlen, verspüren andere dauerhaft oder zumindest situativ Gefühle der Einsamkeit», heisst es in der Studie.

Betreuungslücken
Ein vielfach sehr breites, nicht immer gut koordiniertes Angebot macht es für ältere Menschen schwierig, sich frühzeitig und umfassend zu informieren. Ohne Familie entstehen oft Betreuungslücken an Abenden und Wochenenden, Feiertagen sowie in Ferienzeiten. Wo soziale, körperliche oder finanzielle Ressourcen fehlen, kann dies zu erheblichen Ungleichheiten unter älteren Menschen führen. «Die Verwirklichung eines guten Lebens im Alter kann ohne die Unterstützung durch enge Familienangehörige zunehmend schwierig werden», konstatiert der Sozialwissenschaftler Carlo Knöpfel vom Forschungsteam der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Zusammen mit der Co-Autorin Nora Meuli hat Knöpfel bereits in der Studie «Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz» auf die sozialpolitischen Herausforderungen der künftigen Alterspolitik hingewiesen. (Siehe auch: Betreuung staatlich finanzieren?)  Für ihn wäre ein Lösungsansatz, künftig Sozialarbeitende bei der Spitex einzustellen, um bestehende Angebote im Quartier zu vernetzen und so neue soziale Kontakte zu schaffen. In der Stadt Luzern versucht Vicino mit seinen fünf Standorten solche Netzwerke zu schaffen.

Bundesrat stärkt betreutes Wohnen
Auch der Bundesrat will die Autonomie älterer Menschen und das Wohnen im eigenen Zuhause fördern. Denn sie wollen so lange wie möglich selbstbestimmt wohnen und benötigen dabei nicht nur gesundheitsbedingte Unterstützung. Hilfe und Betreuung im Haushalt und beim Einkaufen sowie Mahlzeitendienste oder eine sichere Umgebung (Sturzprävention) ermöglichen es älteren Menschen, länger selbstständig daheim zu wohnen. Der Bundesrat will deshalb Bezügerinnen und Bezügern von Ergänzungsleistungen künftig Betreuungsleistungen im Rahmen von Krankheits- und Behinderungskosten vergüten, wie er in seinem Gesetzesentwurf vom Juni 2023 schreibt. Konkret sollen folgende Leistungen vergütet werden: ein Notrufsystem, Haushalthilfe, Mahlzeitendienst, Fahr- und Begleitdienste, Wohnungsanpassungen sowie ein Mietzuschlag für eine altersgerechte Wohnung. Zudem sollen EL-Bezügerinnen mit einem Assistenzbeitrag einen Zuschlag für die Miete eines zusätzlichen Zimmers sowie für eine Nachtassistenz beanspruchen können. Da die Vergütung der Krankheits- und Behinderungskosten vollumfänglich zu Lasten der Kantone gehen, müssten diese laut Schätzung des Bundes mit einem zusätzlichen Aufwand von 227 bis maximal 476 Millionen Franken rechnen. Umgekehrt würden sich durch die verzögerten Heimeintritte Einsparungen von 280 Millionen Franken ergeben.

15. August 2023 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch