Linguistik-Professorin Helen Christen. Bild: Joseph Schmidiger

Alte Paare – junge Paare

Von Helen Christen

Sie/er klaubt ihm eine Fussel vom Mantel. Er/sie trottet auf dem ausladenden Trottoir drei Schritte hinter ihm/ihr her. Sie/er schubst ihn/sie zur Seite und löst für ihn/sie ein Billett am Automaten. Er/sie guckt auf der Parkbank nach rechts, sie/er nach links. Alle Szenarien inklusive Missmut und latente Gereiztheit. Wer kennt sie nicht: Paare, deren Unachtsamkeiten verraten, dass sie vom Hauptwaschgang gemeinsamen Lebens mürbe geworden sind und ihre Begeisterung für einander nach und nach abhandengekommen ist. Wer kennt sie nicht: Paare, deren öffentliche Auftritte dem Drehbuch einer drittklassigen Soap entsprungen scheinen: Er/sie erzählt eine episch ausgelegte Anekdote, die alle längst bis ins Detail kennen (aber dennoch brav lachen), während er/sie den Liveact mit einer Leichenbittermiene quittiert; andere Paare brauchen Publikum, um ihre Könnerschaft im gegenseitigen Ausbuchstabieren von Mängellisten zu beweisen.

Sitzt mir im Zug ein vom gemeinsamen Leben sichtlich ermüdetes Paar – sei es im Anschweig- oder im Nörgelmodus – gegenüber, drehe ich im Kopf den Uhrzeiger gerne um ein paar Jahre zurück und setze mentales Botox ein. Ich sehe, wie sie/er nicht genug bekommt vom Anblick der Gefährtin/des Gefährten, wie sie/er nach jeder Gelegenheit sucht, ihn/sie zu berühren, wie sie/er an ihren/seinen Lippen hängt und mit glänzenden Augen bereit ist, jede Belanglosigkeit für der Weisheit letzten Schluss zu halten. Ein junges Paar halt.

Die Pronomen können oben ganz nach Gusto gewählt werden; dabei sollten die weniger heteronormativen sie&sie- und er&er-Formationen ebenfalls in Betracht gezogen werden.

Setzen langjährige Beziehungen quasi naturgesetzlich unschöne Gebrauchsspuren an? Keine Bange: Es geht gottseidank auch anders. Dafür, dass aus dauerhafter Zweisamkeit durchaus Kollateralnutzen erwachsen kann, eine kleine Begebenheit vor herbstlich eingefärbter Wiener Kulisse: Im vergangenen September konnte ich im MuseumsQuartier Wien ein altes Paar beobachten, wie es – sich ganz leise unterhaltend – die Auslagen einer Buchhandlung in Augenschein nahm. Sind das nicht...? Das sind doch...! Angesichts von ein paar Laufzentimetern Helfer und Köhlmeier in meinem Bücherregal sah ich mich halbwegs legitimiert, die beiden anzusprechen und zu fragen, ob sie nicht per Zufall Frau Helfer und Herr Köhlmeier seien. Die von mir als Herr Köhlmeier gelesene Person zeigte auf die von mir als Frau Helfer gelesene Person und meinte, diese sei Herr Köhlmeier, er/sie aber sei Frau Helfer. (Womit ich mich – den Umständen geschuldet – auch einmal bei dem im Gender-Diskurs so angesagten «gelesen als» habe bedienen können...!)

Gut möglich, dass es sich bei diesem witzboldigen Vexierspiel um die längst eingespielte Praxis des Paares im Umgang mit lästigen Anquatschern handelte. Ob das sibyllinische Lächeln der Person, die für mich Frau Helfer war, jedoch ein verschwörerisches oder nachsichtiges war? – kaum zu entscheiden. Liebevoll war auf jeden Fall, wie sie den Wortführer gewähren liess. Dass diese beiden – seit über vierzig Jahren ein Ehepaar, wie das Internet verrät – so heiter und gelöst miteinander umgehen, scheint mir alles andere als selbstverständlich. Immerhin stehen sie als hochdekorierte Schriftsteller in direkter Konkurrenz zueinander: um Publikum, Rezensionen, Auszeichnungen. Köhlmeier hat sich einen Namen gemacht als Romanautor, Feuilletonist und Kulturvermittler (seit er in den 1990er Jahren die Odyssee in seinen Romanen «Telemach» und «Kalypso» neu in Szene gesetzt hat, ist er ein Stern an meinem Bücherfirmament); Helfer katapultierte sich im Jahr 2020 mit ihrem (fast) autofiktionalen Roman «Die Bagage» in die Bestsellerlisten (was schon dem früher veröffentlichten «Oskar und Lilli» zu gönnen gewesen wäre). Köhlmeier ist ein begnadeter Fabulierer, Helfer eine sparsam-prägnante Wort-für-Wort-Stellerin – viele Seiten er, wenige Seiten sie.

Nein, ich kenne weder Monika Helfer noch Michael Köhlmeier persönlich. Auch war mir an jenem Wiener Herbstnachmittag ein bloss zufälliger Schnappschuss von ihrer Aussenwirkung als Paar vergönnt: zuvörderst Harmonie und charmante Verspieltheit. Als störende Eindringlingin in eine eher private Alltagssituation eigne ich mir nun überdies die Deutungshoheit über deren Wirkung an und interpretiere sie als Ernte aus einem langen gemeinsamen Leben, das über alle Gegensätzlichkeiten, über alle beruflichen und anderweitigen Tretminen hinweg den Zauber des Anfangs zu inniger Einvernehmlichkeit und Vertrautheit veredelt hat. Und mich ganz zufrieden bilanzieren lässt: Es gibt sie, die jungen alten Paare!

16. Februar 2024 – helen.christen@luzern60plus.ch


Zur Person
Helen Christen, geboren 1956, ist in St. Erhard aufgewachsen und wohnt seit vielen Jahren in Luzern. Bis zu ihrer Emeritierung war sie Professorin für Germanistische Linguistik an der Universität Freiburg i. Ü. Das Interesse an der deutschen Sprache in all ihren Facetten und die Lust an der Vermittlung linguistischen Wissens waren nicht nur die Triebfedern in ihrem Berufsleben, sondern prägen auch den neuen Lebensabschnitt.