Cécile Bühlmann. Bild: Joseph Schmidiger

Altes Gift in neuen Schläuchen

Von Cécile Bühlmann

Verschwörungserzählungen gibt es seit Jahrhunderten, oft dienten sie als Erklärungen für Phänomene, die sich die Menschen nicht erklären konnten und die sie ängstigten. In letzter Zeit grassieren sie auf beunruhigend hohem Niveau wieder neu. Die Corona-Pandemie war ein erster grosser Trigger und die aktuellen Kriege tragen das ihre dazu bei, dass diese Narrative wieder Hochkonjunktur haben.

Den Verschwörungserzählungen ist eines gemeinsam: der Glaube an eine heimliche grosse Macht, die alles steuert und alles Übel verschuldet. Diese heimliche Macht wird in den meisten Verschwörungsnarrativen den Juden zugeschrieben. Das ist nicht neu, gab es doch schon im Mittelalter Ideen einer jüdischen Verschwörung gegen die Christenheit. Es gab Anschuldigungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung wegen angeblicher Brunnenvergiftungen, Ritualmorden, Hostienfrevel und anderer Ungeheuerlichkeiten. In neuerer Zeit kam der Mythos der jüdischen Weltverschwörung auf und das sogenannte Weltjudentum wurde für die modernen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen und die damit verbundenen Existenzängste verantwortlich gemacht. 

Um 1903 tauchte zum ersten Mal das antisemitische Machwerk «Die Protokolle der Weisen von Zion» auf und diente den Nazis als Hetzschrift gegen die den Juden und Jüdinnen unterstellte Weltherrschaft. Sie verschrien das «Weltjudentum» als Drahtzieher sowohl für den Finanzkapitalismus wie auch für den Bolschewismus. In einem Aufsehen erregenden Prozess, der vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) in der Schweiz angestrengt worden war, wurde die Schrift 1935 als Fälschung entlarvt.

Solche Erzählungen entfalten ihre Wirkung bis heute. Sie erhalten Nahrung durch die weltweite Vernetzung, die Globalisierung. Diese macht die Entwicklungen und Entscheide der Wirtschaft und anderer global tätiger Organisationen für viele Menschen undurchschaubar und unheimlich. Da bietet sich das Narrativ der Weltherrschaft geradezu an, um die als Zerstörung nationaler, politischer und kultureller Identität empfundene Entwicklungen durch «globale Eliten» anzuprangern. Durch die sozialen Medien werden solche Narrative heute weltweit unglaublich schnell verbreitet.

Zsolt Balkanyi, Präsident der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) sagte kürzlich in einem Interview, dass solche Vorstellungen und stereotype Vorurteile von einer angeblichen jüdischen Weltverschwörung in den tiefen gesellschaftlichen Schichten lauern würden und dort konserviert seien und dass sie durch den Krieg in Gaza getriggert und an die Oberfläche schwappen würden. Balkanyi nennt den heutigen Antisemitismus altes Gift in neuen Schläuchen und schreibt ihm eine demokratiezersetzende Wirkung zu. Deshalb sei es wichtig, dass sich alle an demokratischen Gesellschaften interessierten Menschen gegen den Antisemitismus engagieren. Sonst wird es gefährlich für jüdische Menschen weltweit, das zeigt die Messerattacke auf einen Juden in Zürich von Anfang März.

Das Engagement gegen Antisemitismus ist voller Stolpersteine. Wer versucht, zwischen berechtigter Israelkritik und antisemitisch motivierter Israelkritik zu unterscheiden, kann leicht in ein Minenfeld geraten. Darf man zum Beispiel Israel wegen der vielen zivilen Opfer im Gazastreifen kritisieren? Darf man die Verhältnismässigkeit der israelischen Angriffe als Reaktion auf das fürchterliche Hamas-Massaker in Frage stellen? Oder sind mit solchen Aussagen die Grenzen des Antisemitismus bereits überschritten? Auf diesem schmalen Grat gibt es keine scharfe Trennlinie. Das zeigt gerade das Beispiel von Chuck Schumer, dem ranghöchsten jüdischen Politiker Amerikas. Er hat in seiner Rede im Kongress zwar die Brutalität der Hamas und das Recht Israels sich zu verteidigen genannt, aber auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu scharf kritisiert und unverhohlen zum Rücktritt aufgefordert. Seither wird erbittert darüber diskutiert. Er habe diese Rede aus echter Liebe zu Israel gehalten, entgegnet Schumer seinen Kritikern.

Wie soll man sich also in solch aufgeheizten Debatten verhalten, ohne antisemitisch zu sein? Es gibt kein Patentrezept. Ich weiss von Professoren, die den sogenannten 3-D-Test von Natan Scharanski für aktuelle Diskussionen mit Studierenden anwenden. Dieser Test sagt: «Wenn Doppelstandards, Delegitimierung und Dämonisierung im Spiel sind, handelt es sich um Antisemitismus.» Mit Doppelstandards ist gemeint, dass andere Massstäbe an Israels Politik angelegt werden als an andere Staaten. Mit Delegitimierung ist gemeint, dass das Existenzrecht Israels in Frage gestellt wird. Mit Dämonisierung ist gemeint, dass Israel als das Böse schlechthin dargestellt wird.

Ganz unbestritten ist auch dieser Test nicht. Aber unbestritten ist, dass es unter keinen Umständen angeht, dass ein 15-jähriger Jugendlicher in Zürich einen Menschen töten will, weil er Jude ist. Unbestritten ist auch, dass antisemitische Verschwörungserzählungen solche Taten befeuern.

29. März 2024 – cecile.buehlmann@luzern60plus.ch


Zur Person
Cécile Bühlmann ist geboren und aufgewachsen in Sempach. Sie war zuerst als Lehrerin, dann als Beauftragte und Dozentin für Interkulturelle Pädagogik beim Luzerner Bildungsdepartement und an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Von 1991 bis 2005 war sie Nationalrätin der Grünen, zwölf Jahre davon Präsidentin der Grünen Fraktion. Von 1995 bis 2007 war sie Vizepräsidentin der damals neu gegründeten Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR. Von 2005 bis 2013 leitete sie den cfd, eine feministische Friedensorganisation, die sich für Frauenrechte und für das Empowerment von Frauen stark macht. Von 2006 bis 2018 war sie Stiftungsratspräsidentin von Greenpeace Schweiz. Sie ist seit langem Vizepräsidentin der Gesellschaft Minderheiten Schweiz GMS. Seit 2013 ist sie pensioniert.