Wer im Alter arm ist, fühlt sich oft einsam und nutzlos.

 

Ungleichheit im Alter (1)  

Wer arm ist, zahlt über 40 Prozent
fürs Wohnen

Fast die Hälfte der Frauen kann im Alter mit keiner Rente aus der beruflichen Vorsorge rechnen. Doch nicht nur das Einkommen, auch das Vermögen ist höchst ungleich verteilt. Das zeigt eine Analyse über «finanzielle Spielräume älterer Menschen in der Schweiz» von Nora Meuli und Carlo Knöpfel.

«Die Renten haben den Existenzbedarf angemessen zu decken.»
                                        Bundesverfasssung, Artikel 112 zur AHV

 

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

«Ich muss jeden Franken zweimal umdrehen», sagt der Rentner Hans Künzli (80). Er bezieht eine AHV-Rente von 1893 Franken, eine Ergänzungsleistung (EL) von 1068 Franken im Monat und verfügt über kein Vermögen. So muss er mit einem schmalen Budget auskommen. Für den Einkauf von Lebensmitteln und Hygieneartikeln stehen ihm nur 500 Franken zur Verfügung, wie in einer Reportage des Tages-Anzeigers (vom 8. Januar 2022) zu lesen ist. Hans Künzli ist kein Einzelfall. In der Schweiz sind Einkommen und Vermögen unter der älteren Bevölkerung höchst ungleich verteilt, wie die Analyse von Nora Meuli und Carlo Knöpfel mit neusten wissenschaftlichen Erkenntnissen darlegt.*

Die ärmsten 20 Prozent der Rentnerpaarhaushalte (1.Quintil) müssen im Monat mit durchschnittlich knapp 4000 Franken auskommen, während die obersten 20 Prozent (5. Quintil) im Mittel 16'000 Franken zur Verfügung haben. Die finanziellen Spielräume älterer Menschen sind demnach höchst unterschiedlich. So müssen die einkommensschwächsten alleinstehenden Rentnerinnen oder Rentner über 40 Prozent des Einkommens fürs Wohnen aufbringen, bei den reichsten macht es hingegen nur 14 Prozent des Budgets aus. Das gleiche Bild bei den Krankenkassenprämien: Die Gutbetuchten müssen weniger als 5 Prozent des Einkommens dafür aufwenden, für die anderen können die Kopfprämien bis zu 19 Prozent des Budgets ausmachen. Während also die einen im Alter auf grossem Fuss leben, können sich andere kaum einen Kinobesuch leisten. Insbesondere alleinstehende Frauen sind von materieller Armut betroffen und verfügen oft über keine finanziellen Reserven.

Das Haushaltseinkommen sinkt
Mit der Pensionierung sinkt das Haushaltseinkommen. Während der mittlere Lohn der 50- bis 65-Jährigen rund 7400 Franken ausmacht, erhalten Neurentnerinnen und Neurentner als mittlere Rente rund 3500 Franken, also knapp die Hälfte. Denn für einen Grossteil der Rentnerhaushalte mit kleinerem und mittlerem Einkommen – und damit die Mehrheit der Haushalte – ist die AHV die wichtigste Einkommensquelle. Bei den Alleinstehenden gilt das sogar für 80 Prozent der Haushalte, bei den Paaren sind es immerhin noch 60 Prozent. Konkret heisst das: Alleinlebende erhalten von der AHV bestenfalls die Maximalrente von 2390 Franken, Paare maximal 3585 Franken – das sind keine existenzsichernden Renten. Von der Minimalrente von 1195 Franken gar nicht zu reden. Deshalb können Rentnerhaushalte, die in prekären Verhältnissen leben, Ergänzungsleistungen (EL) beanspruchen.


16 Prozent verzichten auf Ergänzungsleistungen

Obschon die Bundesverfassung eigentlich vorsieht, dass die AHV eine existenzsichernde Rente zu gewähren hätte, kann die Alters- und Hinterlassenenversicherung diesem Anspruch nicht gerecht werden. Deshalb können Frauen und Männer mit tiefen Renten und geringem Vermögen seit den 1960er-Jahren Ergänzungsleistungen (EL) beanspruchen. Heute sichern die EL die Existenz von 216'000 Seniorinnen und Senioren, das sind rund 13 Prozent der älteren Bevölkerung. Vor allem der Aufenthalt im Pflegeheim ist so teuer, dass sich viele Betagte diese Pflege und Betreuung ohne EL gar nicht leisten könnten. Allerdings verzichtet ein «substanzieller Teil» der anspruchsberechtigten Rentnerinnen und Rentner – vor allem jene, die zu Hause leben – freiwillig oder aus Unkenntnis auf diese existenzielle Unterstützung. Gemäss der Analyse von Nora Meuli und Carlo Knöpfel erhalten nämlich rund 16 Prozent der Rentnerhaushalte keine Ergänzungsleistungen, obschon sie aufgrund ihrer finanziellen Situation Anspruch darauf hätten. Die Experten führen das nicht zuletzt auf bürokratische Hürden zurück.  


Armut im Alter hat viele Facetten, wie die Sozialwissenschaftler Nora Meuli und Carlo Knöpfel betonen. Denn Armut bedeutet mehr als zu wenig Geld haben. Besonders im Alter könne sie als prekäre Lebenslage beschrieben werden. Den Betroffenen mangelt es nicht nur an wirtschaftlichen Ressourcen, sondern auch an sozialen Bindungen und an Möglichkeiten zur öffentlichen Teilhabe. «Sie leben in zu kleinen Wohnungen, die schlecht zugänglich sind, und an Orten, deren Sozialräume wenig altersgerecht gestaltet sind.» Das führe dazu, dass vulnerable ältere Personen an einer Perspektivenlosigkeit litten, das Altern als «Abstieg» erlebten und sich einsam und nutzlos fühlten.

Der «Gender-Pensions-Gap»
Gemäss Bundesamt für Statistik sind Rentnerinnen und Rentner überdurchschnittlich häufig armutsbetroffen (14 Prozent) oder armutsgefährdet (19 Prozent). Als armutsgefährdet gilt, wer als Einpersonenhaushalt nicht mehr als 2500 Franken zur Verfügung hat (mit EL zur AHV sind das 3150 Franken pro Monat). Bei den Paarhaushalten liegt diese Schwelle bei 3740 Franken (mit EL zur AHV sind es 4140 Franken). Frauen sind überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen, weil alleinlebende ältere Menschen häufiger unter finanziellen Nöten leiden – und Frauen im Alter 70 Prozent der Alleinlebenden in der Schweiz ausmachen.

Die prekäre Situation der Frauen ist vor allem auf das Erwerbsleben zurückzuführen. Weil Frauen mehr unbezahlte Care-Arbeit leisten und öfters in Teilzeit bei schlechteren Löhnen arbeiten, können sie von der Pensionskasse (2. Säule) weniger stark profitieren. Fast die Hälfte von ihnen bezieht gar keine Rente aus der beruflichen Vorsorge, bei den Männer ist es ein Viertel. Dieser «Gender-Pensions-Gap» führt dazu, dass die Renten der Männer im Schnitt 37 Prozent höher liegen. Oder anders gesagt: Frauen erhalten im Schnitt 18'700 Franken pro Jahr weniger Leistungen aus der Pensionskasse als Männer. Allerdings lässt sich dieser Genderunterschied etwas relativieren. Weil die Rentnerpaare in der Regel eine ökonomische Einheit bilden, profitieren die Ehefrauen von den höheren Renten der Ehemänner, auch bei einer Scheidung werden die PK-Guthaben aufgeteilt. Doch selbst wenn man die Rentenlücke ohne die verheirateten Personen berechnet, macht der geschlechtsspezifische Unterschied immer noch 21 Prozent aus. Die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern widerspiegelt sich auch bei der 3. Säule, dem «Sparvehikel für Wohlhabende», wie Meuli und Knöpfel dieses Steuerprivileg bezeichnen. Nur 14 Prozent der Frauen können etwas Geld auf dem Vorsorgekonto 3a zurücklegen, bei den Männern sind es 26 Prozent.

28. Januar 2022 – beat.buehlmann@luzern60plus.ch

In der nächsten Folge: Wer kann sich gute Betreuung leisten?

​​​​​​​*Nora Meuli und Carlo Knöpfel: Ungleichheit im Alter. Eine Analyse der finanziellen Spielräume älterer Menschen in der Schweiz. 220 Seiten, mit zahlreichen Grafiken, 43 Franken. Seismo Verlag Zürich, 2021.

Sozialalmanach 2022 «Frauenarmut»: Caritas-Jahrbuch zur sozialen Lage der Schweiz. Caritas-Verlag Luzern, 2021. 220 Seiten, 36 Franken. Am Freitag, 8. April 2022, führt Caritas Schweiz in Bern ein Forum zum Thema «Wenn Armut weiblich ist» durch.