Knappe Mittel im Alter: Ein Tabuthema zur Diskussion gestellt

Von Marietherese Schwegler (Text) und Joseph Schmidiger (Bilder)

Die Präsidentin des Forums Luzern 60plus, Christina von Passavant, hat die öffentliche Veranstaltung im MaiHof Luzern provokativ mit einem verbreiteten Klischee eröffnet: „Wer heute von Alten redet, redet meist von Millionären.“ Eine andere Tatsache, dass nämlich ein beträchtlicher Teil der Menschen 65+ mit knappen Mitteln auskommen muss, sei nach wie vor ein Tabu, sagte sie. Nur schon den Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV-Rente geltend zu machen, sei für manche Älteren schwierig – aus Scham oder weil sie einen Eingriff in die Autonomie befürchteten.

Altersarmut betrifft die gesamte Lebenslage

Der Hauptreferent des Abends, Carlo Knöpfel, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz und seit vielen Jahren Experte für Armutspolitik und Soziale Sicherheit, hat sich mit zahlreichen eigenen Forschungsprojekten in die Thematik vertieft und schöpft aus allen relevanten Quellen. (Carlo Knöpfels informative Präsentation ist hier verlinkt. Im Folgenden wird gelegentlich auf einzelne Seiten oder Grafiken daraus verwiesen). Er machte gleich zu Beginn klar, dass das in der Verfassung verankerte Ziel von existenzsichernden AHV-Renten bis heute nicht erreicht wurde. Vielmehr seien Tendenzen auszumachen, wonach Armut im Alter wieder am Zunehmen sei. Selbst wenn heute von sämtlichen Sozialversicherungsausgaben inkl. Krankenversicherung 7 von 10 Franken an alte Menschen gehen. Ausserdem, so Knöpfel, sei das Thema vielschichtig. „Ältere Menschen mit knappen Mitteln leiden nicht nur unter zu wenig Geld. Altersarmut betrifft ihre ganze Lebenslage, die Wohnsituation, die Beziehungen, die Gesundheit. Perspektivlosigkeit kommt hinzu, da für Ältere wenig Spielraum besteht, ihre Lage noch verbessern zu können. Und nicht zuletzt bedroht Armut oft auch die persönliche Würde älterer Menschen“, sagte er.

Frauen und Alleinlebende stärker betroffen

Die Armutsquote (Einkommensarmut) ist bei Menschen ab 65 Jahren mit 16.4 mehr als doppelt so hoch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung mit 7.7 (Präsentation S. 7). Armut im Alter ist oft die Folge prekärer Lebensverläufe, wie z.B. Brüche in der Erwerbsbiografie, fehlende Berufsbildung, gesundheitliche Einschränkungen, prekäre Arbeitsverhältnisse oder auch Scheidungen. Nicht überraschend ist die Verteilung der Renteneinkommen nach Geschlecht sehr unterschiedlich. Der grösste Anteil der Rentnerinnen kommt auf eine Jahresgesamtrente von rund 20 000 Franken, während sich diese bei Männern zahlenmässig klar in höheren Bereichen bewegt. Im Schnitt beziehen Frauen rund 20 000 Franken weniger als Männer, wobei die geringeren Renten aus der Beruflichen Vorsorge (BV) viel zum so genannten Gender Pension Gap beitragen (Präsentation S. 10, 11). Grundsätzlich sind Alleinlebende – auch dies sind mehrheitlich Frauen – von Armut stärker betroffen als Paare. Und wie steht es mit den Vermögen der Alten? Rund 80% der Menschen ab 65 verfügen über ein liquides Bruttohaushaltvermögen von über 10 000 Franken, ca. 35% von über 100 000 Franken (Präsentation S. 8).

Ergänzungsleistungen zunehmend benötigt

Weil die AHV-Renten weit davon entfernt sind, die Existenz zu sichern, wurden Ergänzungsleistungen (EL) eingeführt. 2014 haben knapp 193 000 Personen EL zur AHV bezogen, wobei die Bezugsquote generell steigt, bei Neurenten zwischen 1999 und 2012 von 5.7 auf 8.6. Von allen Renten wurden 1999 noch 11.3% mit EL ergänzt; 2012 bereits 12.2%. Bereits bei Neurenten, aber mehr noch im hohen Alter (ca. ab 85, was v.a. Menschen in Pflegeheimen betrifft), sind Frauen deutlich stärker vertreten als Männer (Präsentation S. 12–15).

Wohnen wird im Alter wichtiger

Nach den Ausführungen zur wirtschaftlichen Situation kam Carlo Knöpfel zu weiteren Facetten der Lebenslagen und nannte das Wohnen als ersten Faktor: „Wohnen wird im Alter wichtiger, denn alte Menschen verbringen mehr Zeit zu Hause als früher. Hier gehört aber nicht nur der Wohnraum ins Blickfeld, sondern auch das nahe Wohnumfeld“, sagte er. Umzüge im Alter werden häufiger. Aufgrund der stark gestiegenen Mieten ist dann eine kleinere Wohnung sogar teurer als die frühere Familienwohnung. Fazit: Für Menschen mit knappen Mitteln ist die Wohnversorgung ungenügend. Das betrifft zunächst die Belastung durch die Wohnkosten: Vier von fünf finanziell schwachen RentnerInnen müssen deutlich mehr als ein Drittel des Einkommens für die Wohnungsmiete aufwenden (Präsentation S. 19). Viele von ihnen können sich zudem nur eine Wohnung an schlechter Wohnlage leisten, was oft mit schlechter Erreichbarkeit verbunden ist und den Bewegungsradius und damit die gesellschaftliche Teilhabe einschränkt. Kommt hinzu, dass viele Ältere Mühe haben, materielle Hilfe zu beantragen. Um einer drohenden Vereinsamung zu begegnen, fordert Carlo Knöpfel „mehr multidimensionale Angebote“, die weiter gehen als ein Mittagstisch und ein Fahrdienst. Mit den alten Menschen einfach Zeit verbringen – das ist etwas, was gerade für Leute mit knappen Mitteln Not tut.

Gesundheit und Lebenserwartung

Krank macht arm. Oder: Arm macht krank? Eine rhetorische Frage, die Carlo Knöpfel stellte. Jedenfalls hängen Gesundheit und damit auch die Lebenserwartung stark mit Faktoren wie Einkommen, Bildung und sozialem Status zusammen. Wenn dann noch ambulante Betreuungsangebote entweder fehlen oder für Betagte mit knappen Finanzen unbezahlbar sind, sehen diese Menschen oft keinen anderen Weg als den Eintritt in ein Pflegeheim. Selbst wenn sie noch keine Pflege im engeren Sinn benötigen. „20 Prozent der HeimbewohnerInnen haben nur aus sozialen Gründen eine stationäre Lösung wählen müssen. Und das ist teuer!“, erklärte Knöpfel. Deshalb liege es im eigenen Interesse von Gemeinden und Städten, mehr ambulante und bezahlbare Betreuungsangebote aufzubauen, um das private Wohnen so lange als möglich zu unterstützen.

„Keine rosigen Aussichten“

Mit dieser wenig aufmunternden Prognose kommentierte Carlo Knöpfel die aktuelle Alterspolitik. So sei zum Beispiel das seit langem dringliche Thema höherer Mietzinsbeiträge im Rahmen der EL vom Parlament auf Eis gelegt worden. Auch die Frage, wie die Betreuung älterer (noch) nicht pflegebedürftiger Menschen finanziert werden soll, harrt einer Lösung. Dabei ist längst erkannt, dass der Bedarf nach Betreuung in Form von Zuwendung und Zeit gross und ungenügend abgedeckt ist. Was bisher häufig die Familie, Töchter oder Schwiegertöchter übernommen haben, fällt heute oftmals weg, weil die erwachsenen Kinder weit weg leben oder weil mehr kinderlose Menschen ins Alter kommen.

Zum Schluss schickte Carlo Knöpfel einen Warnruf an die Politik: „Achtung, die Babyboomer kommen: zuerst ins Rentensystem, dann in das Betreuungs- und Pflegesystem.“ Angesichts dieser geburtenstarken Jahrgänge sollte sich das Politiksystem auf allen Ebenen schnellstens auf Lösungen einigen, ist wohl damit gemeint. Zumal diese Altersgruppe auch als WählerInnen ins Gewicht fällt.

Wie lebt ein Mann mit knappen Mitteln?

Nach den lebensnahen, aber doch eher theoretischen Ausführungen des Experten stellte sich Fredi Macek, der seit Jahren mit wenig Geld lebt, den Fragen von Hans Beat Achermann; beide sind aktive Mitglieder des Forums Luzern 60plus. Fredi, der Wirtschaft an der Uni studiert und dann neben dem Beruf eine Galerie geführt hatte, wurde mit 55 arbeitslos. Die letzten zwei Jahre vor dem Rentenalter hat er von Sozialhilfe gelebt.

Heute hat Fredi dank EL nach Bezahlen der Miete und der Krankenkassenprämie noch rund 45 Franken im Tag zur Verfügung für Essen und Kleidung und was man sonst so benötigt. Er hat gelernt, mit List und Lust rauszufinden, wo er günstig einkaufen kann. Bücher holt er in der Bibliothek statt sie wie früher zu kaufen, die Zeitung liest er im Café, Lebensmittel sind kurz vor Ladenschluss oft billig zu haben. Und ausserdem hat er schon früher einen ähnlich bescheidenen Lebensstil gepflegt, hat Secondhand-Kleider getragen aus Überzeugung. „Ich betrachte mein Leben mit knappen Mitteln als eine Art Sport“, schmunzelte er. Auf die Frage, was er tun würde, wenn er monatlich plötzlich 5000 Franken ausgeben könnte, musste er erst nachdenken. Nun, dann würde er sich vielleicht eine andere Wohnung leisten. Und den Luxus, spontan eine CD, eine gute Flasche Wein oder wieder mal ein Buch zu kaufen.

Klar, Fredi ist wohl ein atypischer EL-Bezüger, was sich schon darin zeigt, dass er sich weder schämt noch über seine Lage klagt, sondern freimütig vor Publikum darüber berichtet. „Ich bin recht zufrieden mit meinen knappen Mitteln“, sagte er völlig glaubwürdig.

Städtische Zusatzleistungen

Stadtrat und Sozialdirektor Martin Merki knüpfte als letzter Referent an Knöpfels Referat an. Altersarmut, so Merki, sei tatsächlich ein verdecktes Thema. Ungefähr 3000 Personen würden in der Stadt Luzern EL beziehen; wie viele Berechtigte ihren Anspruch jedoch gar nicht geltend machten, das wisse die Stadt nicht. Aber dass manche Älteren, v.a. Frauen und Migrantinnen, von Armut betroffen seien, sei offensichtlich. Für die Stadt Luzern sei auch das Thema Wohnen zentral: Ältere Menschen sollten in ihrer Wohnung bleiben können, Mobilität und Versorgung im Quartier gesichert sein. Weil die EL nicht existenzsichernd sind, hat die Stadt die Möglichkeit, unter bestimmten Voraussetzung bescheidene Zusatzleistungen zur AHV/IV (AHIZ) an die Mietkosten auszurichten.
1. 12. 2016

Knappe Mittel im Alter. Präsentation von Prof. Dr. Carlo Knöpfel, FNHW

An der Veranstaltung hat Agatha Fausch von einer Frau berichtet, die mit monatlich 3100 Franken durchkommen muss. Hier geht’s zum Bericht "Was heisst es, mit knappen Mitteln zu leben?"

Knappe Mittel im Alter? Was steht mir zu?
Flyer mit Infos über Leistungen und Adressen

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