Der Flaneur ist unterwegs (10)

Beim Barte der Propheten!

Von Karl Bühlmann

De beschti Grend steht auf der Hinweistafel. Der Flaneur stutzt und denkt: Da läuft eine Werbeveranstaltung für die kommenden Kantonsratswahlen. 314 Kandidatinnen und 488 Kandidaten buhlen sich um einen Sitz. Welches sind die beschte Grende, die den Kanton aus dem Schlamassel in die rosarote Zukunft führen? Da kommt ein solcher Laufsteg gerade recht, man muss sich schliesslich ein Bild von denen machen, die, je nach Parteifarbe, das Blaue, das Rötliche, das Ganzrote, das Rotorange, das Hellgrüne, das Dunkelgrüne oder eine bisher selten aufgetretene Farbmischung vom Himmel versprechen. Beim Eintritt bemerkt der Flaneur seinen Irrtum: Da ist nicht ein Laufsteg, der das hölzerne Himmelstor für die politische Karriere bedeutet, sondern eine Fotosession für fasnächtlich Vermummte, Verschleierte, Verschönerte, Verkaterte. Zu den Organisatoren gehört das Lokalblatt, das unlängst mit der Artikelüberschrift Mann reibt sich zu Stosszeiten heimlich an Frauen von der Wey-Zunft mit dem Knallfrosch-Award De beschti Grüsel hätte ausgezeichnet werden sollen.

Doch lassen wir das, nichts ist so alt wie eine Zeitung von gestern. Schauen wir in die Zukunft und fragen uns: Wen wählen wir am 31. März, welche Namen kumulieren, panaschieren, streichen? Da gab’s mal den Marquis von Puyzeux, königlicher Ordensritter, Generalleutnant, ordinari in Solothurn residierender Botschafter des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV. Dieser schrieb in seinem Bericht nach Versailles: Die Bewohner des Kantons Luzern sind im Allgemeinen nicht sehr gewandte Leute, aber sie versäumen nicht, zuweilen Persönlichkeiten von überraschender Fähigkeit hervorzubringen, die sehr weit über das gewöhnliche Gehabe der Schweizer hinausreichen…

Beruhigend, dass der Gesandte uns noch ein paar gescheite Grinde im politischen Heuhaufen zubilligt. Aber wie suchen, wo finden, auf welche Referenzen vertrauen? Gibt es 2019 solche Persönlichkeiten, regieren solche gar schon, aber wir merken es nicht? Möglicherweise wäre die Fotosession De beschti Grend gar nicht so ohne für die Luzerner Politik! Die meisten Einzelmasken und Fasnachsgruppen, die sich der Kamera stellen, zeugen von lustvoller Fantasie und – verglichen mit dem politischen Alltag – überraschender Kreativität. Man sollte sich überlegen, die zwanzig Besten der beschten Grende ex officio in den Kantonsrat abzuordnen. Eine zwanzigprozentige Auffrischung des Parlaments mit vielfarbig denkenden Fasnachtsblütern könnte gut tun und würde dem Marquis von Puyzeux gewaltig Lügen strafen. Dieser hatte seinerzeit erfrecht, dem Gesandtschaftsbericht hinzuzufügen, dass die Herren von Luzern in ihrer Mehrheit ohne jeden Ehrgeiz sind und sich begnügen, mit dem, was ihnen nötig erscheint, um fort zu kommen.

Nötig für das Vorwärtskommen ist den Herren von heute die Halbverhüllung auch ausserhalb der Fasnacht, in Form von Drei- oder Fünftagebart und Vollbart. Um 2000 war der metrosexuelle Look – Glattrasur von Kinn bis Knie – modern, jetzt sind Bärte in allen Formen und Längen ein Must der nicht-toxischen Männlichkeit. Nachdem Frauen auch Off-Roader fahren, Düsenjets pilotieren, die Eigernordwand hochsprinten, Rugby spielen, CEO werden, Unternehmen und Orchester dirigieren ist es für viele Männer schwierig geworden, ihre Männlichkeit zu definieren. Und weil das grosse Rätsel, warum Frauen keine Barthaare spriessen, ungelöst bleibt, können sich Männer noch immer mit Schnauz oder Bart vom anderen Geschlecht abgrenzen. Für die haarige Männlichkeit gibt es auch gute Gründe. Bartforscher Barnaby J. Dixon von der University of Queensland in Brisbane hat belegt, dass Männer mit Bart als maskuliner und selbstbewusster bewertet werden. 

Allerdings: Nicht jeder, der einen Bart trägt, sei schon ein Prophet, besagt ein arabisches Sprichwort. Aber möglicherweise reicht ein solcher, Bart oder Schnauz, eher zur Wahl in den Luzerner Kantonsrat? Der Flaneur vertieft sich bei Café und Schenkeli in die Unterlagen im gemeinsamen Versand der Parteien zu den Wahlen vom 31. März. Es macht Spass, die Fötelis der kandidierenden Herren nach Mit- und Ohne-Bart (und Schnäuzen) zu sortieren. 

 

Eine interessante Barteienlandschaft tut sich da auf. (Vorbemerkungen zur folgenden Statistik: Sie bezieht sich auf den Wahlkreis Luzern-Stadt. Die Zahlen sind ohne Gewähr, die Fehlerquote beträgt plusminus fünf Prozent, da auf den Fötelis nicht immer erkennbar ist, ob es sich unter dem Kinn um Schatten oder Flaum handelt.) 

Die saubersten Gesichter finden sich auf dem Werbeflyer der GLP mit nur 18% Bartträgern, Es folgt die Liste der CVP mit 26%-Bartwüchsigen, eng verfolgt von ganz links von den Jusos (28%) und ganz rechts von der SVP (30%). Dann kommen Junge FDP (36%), SP+60, Junge GLP und BDP (je 50%), Junge Grüne erreichen 57%, alte Grüne 58%. Auf den Spitzenplätzen stehen SP (63%), FDP (66%), die Gruppe Integrale Politik und die Secondos mit je 80%. Die FDP hat in den Unterlagen auch Fötelis ihrer Kantonsrat-Aspiranten von den ländlichen Wahlkreisen mitgeliefert, Damit lässt sich eine weitere These von Professor Dixon auf deren Gültigkeit in der Schweiz überprüfen. Sie besagt, dass Frauen, die in Grossstädten leben, Männer mit Bart attraktiver finden als Frauen, die in kleineren Städten zuhause sind. Ungeachtet, ob Luzern, in unseren Grössenverhältnissen gesehen und im Vergleich zu Sursee und Willisau, schon eine Grossstadt ist: Tatsache ist, dass auf den FDP-Wahllisten von Luzern-Land, Hochdorf, Sursee, Willisau und Entlebuch nur 40 % Barträger zu erkennen sind. Ergo: Je urbaner, desto hipster – und umso notwendiger ist es, in Stadt und Agglo bärtige Dominanz zu zeigen, um Stimmen von Frauen zu bekommen.

Leserinnen der Kolumne mögen mir verzeihen, dass ich mich einzig mit Kandidaten beschäftigt habe. Doch angesichts des Exkurses in das weltbewegende Thema der Formen männlicher Koketterie war dies – in der Fasnachtszeit! – nahe liegend. Immerhin ist eine Frauen-Zunft im Status des Geborenwerdens. Oder doch Fake-News?

Eigentlich wollte der Flaneur einzig Di beschte Grende der Fasnacht belobigen. Dass man als Luzerner dabei wohl oder übel in die Politik hinübergleitet, ist nicht zu vermeiden. Hier wie dort braucht es farbige Köpfe.L’imagination au pouvoir würde der 1968er Marquis de Puyzieurx heute sagen und damit den wüsten Spott, den er vor 350 Jahren über die Luzerner ausgoss, wieder gut machen. Die Leute von Luzern sind meist Nichtstuer und dem Wein ergeben, schrieb er damals in seiner Depesche. Die vielen beschte Grende beweisen 2019 das Gegenteil. Jedenfalls an der Fasnacht.

Zur Person
Karl Bühlmann
 (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten‘, 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI. 

 5.März 2019