Ältere Personen werden oft misshandelt - zu Hause oder im Heim.

Häusliche Gewalt betrifft auch ältere Menschen

Die Zahlen sind erschreckend: Pro Jahr werden zwischen 300 000 und 500 000 ältere Personen ab 60 Jahren beschimpft, geschlagen oder vernachlässigt. Der Bericht «Gewalt im Alter verhindern», den der Bundesrat kürzlich verabschiedet hat, müsse «ein Weckruf sein», sagt die Alterspolitikerin Bea Heim.  

Von Beat Bühlmann

Mit dem Grundlagenbericht «Gewalt im Altern verhindern» reagiert der Bundesrat auf ein Postulat der Luzerner CVP-Nationalrätin Ida Glanzmann-Hunkeler. Das Verdikt ist erschreckend: In der Schweiz, so heisst es im fast 200 Seiten starken Papier, werden «innerhalb eines Jahres etwa 300 000 bis 500 000 Menschen ab 60 Jahren Opfer von mindestens einer Form von Gewalt – sei dies körperliche, psychische, sexuelle oder finanzielle Gewalt oder Vernachlässigung». Und wenn man die Vorfälle von Altersdiskriminierung hinzuzähle, würde sich die Zahl nochmals erhöhen. Ein Grossteil dieser Übergriffe findet im häuslichen Bereich statt und wird von Ehepartnern und Kindern begangen.

Noch immer ein Tabuthema

Selbst die ehemalige SP-Nationalrätin Bea Heim, die bereits vor zehn Jahren mit einem Postulat auf «Gewalt und Misshandlung im Alter» hingewiesen hatte, ist vom Ausmass der Misshandlungen überrascht – und schockiert. «Das darf doch nicht wahr sein!» schrieb sie in einer Stellungnahme als Co-Präsidentin von VASOS (Vereinigung Aktiver SeniorInnen- und Selbsthilfeorganisationen Schweiz). Das müsse «ein Weckruf für uns alle sein». Gewalt und Vernachlässigung gegenüber älteren Personen seien leider nach wie vor ein Tabuthema, sagt Heim, zumal sie vor allem im häuslichen Bereich vorkomme. Demütigung, Beschimpfungen, Schläge, also Gewalt an älteren Menschen sei eine traurige Realität. «Heute müssen wir hinschauen, um den älteren Menschen und den Pflegenden gesellschaftlich die Unterstützung zu geben, die sie für eine Pflege in Würde brauchen.»

In Zusammenhang mit Covid-19 hat sich die Situation für ältere Menschen zum Teil noch verschärft, wie die Nationale Anlaufstelle «Alter ohne Gewalt»* im Mai 2020 in einer Medienmitteilung festhielt. Wenn man von innerfamiliären Spannungen und häuslicher Gewalt spreche, werde selten daran erinnert, dass auch die älteren Menschen stark gefährdet sind. Denn die Ausgangsbeschränkung verstärke die Isolation älterer Menschen und ihrer Angehörigen, insbesondere für Senioren, die über kein Internet verfügten. «Dass ältere Erwachsene in Präventionsbotschaften über häuslicher Gewalt nicht erwähnt werden, ist eine zusätzliche Form der Diskriminierung», kritisiert Delphine Roulet Schwab, Präsidentin von «Alter ohne Gewalt».

Bundesrat zu zögerlich

Warum kommt es zu Gewalt und Vernachlässigung gegenüber älteren Personen? Der Bundesrat hat nun immerhin selber erkannt, dass «Gewalt im Alter ernster genommen werden muss». Im Forschungsbericht, verfasst von der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, wird auf mögliche Massnahmen hingewiesen. Eine Lücke im bisherigen Angebot bestehe insbesondere im Bereich der aufsuchenden und familienorientierten Massnahmen sowie in niederschwelligen Angeboten für gewaltausübende Personen. Ganz generell müssten die bestehenden Angebote und Massnahmen besser bekannt gemacht und koordiniert werden. Dazu brauche es einen nationalen Aktionsplan «Gewalt und Vernachlässigung im Alter». Der Bundesrat hat  nun das Departement des Innern von Alain Berset beauftragt, bis im Herbst 2021 mit den Kantonen und den zuständigen Akteuren zu klären, ob ein gemeinsames Impulsprogramm nötig sei.

Eine derart zögerliche Haltung kann Bea Heim nicht verstehen. «Die hohe Zahl an Betroffenen erträgt kein Hinausschieben mehr», sagt sie. «Was es braucht, ist eine Nationale Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegenüber älteren Menschen, mit einem verbindlichen Aktionsplan gegen die Diskriminierung des Alters.» Das ist auch eine gesellschaftspolitische Herausforderung. Der Verlust an Selbständigkeit, Isolation, Demenz sowie emotionale oder finanzielle Abhängigkeit erhöhen nämlich das Risiko für ältere Menschen, Opfer von Missbrauch zu werden.

Steuerabzug für pflegende Angehörige?

Misshandlungen seien oft auf Überlastung und Überforderung in der Pflege, daheim wie in den Institutionen zurückzuführen, betont Bea Heim, die auch Co-Präsidentin des Schweizerischen Seniorenrates ist. Zum einen gelte es, generell der Pflege mehr Wertschätzung entgegenzubringen. Das bedeute, die Pflegenden in Heimen zu stärken und wo nötig die Arbeitsbedingungen zu verbessern. Andererseits verdienten auch pflegende Angehörige mehr gesellschaftliche Anerkennung, indem ihnen zum Beispiel mit einem für alle bezahlbaren Angebot an Plätzen in Tagesstätten Auszeiten und Erholung ermöglicht wird.  

Im Kanton Luzern ist eine Privatpflege- und Betreuungsinitiative der CVP hängig. Sie will Personen, die freiwillig und unentgeltlich hilfsbedürftige Personen pflegen und betreuen, einen Steuerabzug von 5000 Franken gewähren. Die vorberatende Kommission des Kantonsrats unterstützt das Kernanliegen, lehnt aber den Steuerabzug einstimmig ab, weil insbesondere betreuende Personen mit geringem Einkommen davon kaum profitierten. Stattdessen spricht sie sich für einen Gegenvorschlag aus, der die pflegenden und betreuenden Personen direkt unterstützt. Die CVP-Initiative wird an der nächsten Session des Luzerner Kantonsrats von Ende November beraten. – 11.11. 2020

beat.buehlmann@luzern60plus.ch   

*Das Portal «Alter ohne Gewalt» wurde im April 2019 von der Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter (UBA) in der Deutschschweiz, Pro Senectute Ticino im Tessin und alter ego in der Romandie lanciert. Die nationale Anlaufstelle erhält jedes Jahr Kenntnis von mehreren hundert Fällen von Misshandlung und Gewalt gegen ältere Menschen.


www.alterohnegewalt.ch
Nationale Telefonleitung 0848 00 13 13