BildGeschichte 05/17

Zweimal zwei Schwestern

Von Edith Hausmann

Das eine Bild (oben) wurde um 1845 aufgenommen. Damals waren es immer professionelle Fotografen, die mit Erinnerungsbildern von Hochzeiten, Neugeborenen oder erster Kommunion beauftragt wurden. Die beiden Mädchen sind wahrscheinlich Schwestern. Eines der Mädchen bekam vom Fotografen eine Puppe in den Arm gelegt. Es wird die Jüngere sein, die sich anlehnt. Das Anlehnen soll vielleicht zeigen, dass der älteren Schwester eine beschützende Rolle zukommt. Dieses vertrauensvolle Anlehnen wird mit den geschlossenen Augen des jüngeren Kindes verstärkt. Das ältere Mädchen trägt Verantwortung für seine Schwester.

Das Setting auf dem zweiten Bild, mehr als 100 Jahre später (unten), ist sehr ähnlich. Wieder die Puppe beim jüngeren Kind, meiner Schwester Hulda; sie etwa drei Jahre alt, ich sechs. Ich bekam ein Gummitier. Dieses quietschte, wenn man es drückte. Der Fotograf wollte uns lachen sehen, uns die Scheu vor der unbekannten Situation nehmen. Ich sollte meiner Schwester zeigen, dass sie keine Angst vor dem quietschenden Ding zu haben brauchte. Auch hier wieder die Rolle als Beschützerin und die Last der Verantwortung.

Unsere Mutter starb, als ich 16 war. Unser Vater meinte, dass ich jetzt mit der Lehre aufhören sollte. Ab jetzt sollte ich kochen, putzen und waschen. Dagegen wehrte ich mich. Ich nahm die Mehrfachbelastung durch Arbeit, Schule, Haushalt und die Sorge um meine Schwester auf mich. Ich half ihr bei den Hausaufgaben und bei der Lehrstellensuche. Ich funktionierte. Für meine Trauer blieb kein Raum, was mir erst viel später bewusst wurde.

Meine Schwester starb mit 38 an einer Überdosis Heroin. Ich fühlte mich schuldig, meinte, sie zu wenig beschützt und ihr nicht genug geholfen zu haben.

Edith Hausmann (1949) hat in den letzten 10 Jahren vor der Pensionierung bei Caritas Luzern als Fundraiserin/PR-Fachfrau gearbeitet, davor in weiteren NGOs in ähnlicher Funktion. Für Peace Watch Switzerland war sie in Palästina und in Mexiko als freiwillige Menschenrechtsbeobachterin tätig.