Christina von Passavant ist nicht mehr unter uns

Christina von Passavant (72), die erste Präsidentin des Forums Luzern60plus, hat uns verlassen. Ein Jahr lang hat sie gekämpft, mit Unterstützung der medizinischen Fachleute, denen sie vertraute, mit Phantasie, mit Humor auch. Doch es half nicht, der Hirntumor war stärker.

Von René Regenass (Text und Bild)

„Wir trauern um einen ganz besonderen Menschen“, heisst es in der Todesanzeige. Das war sie zweifellos, in fast allen Phasen. Und vor allem in ihrem Engagement. Sie hat das Forum Luzern60plus vor rund sieben Jahren aufgebaut und präsidiert. Es war ihr ein zentrales Anliegen, das Forum zwischen Stadt und Gesellschaft einzuordnen. Sie suchte das Gespräch und wollte gleichzeitig Distanz halten, um von der Verwaltung unabhängig zu sein oder gar Direktiven entgegennehmen zu müssen. Im gleichen Sinne wirkte sie gegenüber den Mitarbeitenden im Forum. Sie hat ihnen in vielen Fällen freie Hand gelassen, was nur funktionieren kann, wenn die Arbeit trotzdem erledigt wird. Es war ihre Stärke, diesen Prozess irgendwie ins Laufen zu bringen.

Vor rund einem Jahr erlitt Christina von Passavant aus heiterem Himmel einen körperlichen Zusammenbruch. Zuerst Sprachstörungen, eine Art epileptischer Anfall, bis der schnelle Untersuch in der Klinik den wahren Grund erkennbar machte: ein Hirntumor.

Am 11. Februar 2018 schrieb sie ein Mail an Freundinnen und Freunde, das sie mit folgendem Satz einleitete. „SEIT ein paar Tagen habe ich das Gefühl, ich sei wieder voll da. Irgendwie ist die Glocke, unter der ich seit dem 4. November lebte, weg. Ich fühle mich wieder „normal“ – habe einen Alltag, freue und ärgere mich, erfreue und ärgere Andere, schwatze über Banalitäten und wälze Wichtiges.“

Monate später, am 19. September eine neue Nachricht von Christina von Passavant: „ Eure besorgten Nachfragen kann ich leider nicht zerstreuen; es hat sich eine dramatische Verschlechterung ergeben. Zwar konnte ich nochmals relativ gut operiert werden und bin auch punkto Erholung auf gutem Weg, aber die histologische Analyse ergab eine hohe Aggressivität des Tumors. Die Wahrscheinlichkeit eines nächsten Rezidivs ist sehr gross. In Wochen? In Monaten?“ – Am 19. November ist Christina von Passavant gestorben.

Das nachfolgende Porträt über Christina von Passavant erschien im Dezember 2016 im Steinhofblatt, der Zeitschrift des Pflegeheims Steinhof, das damals dem Thema Rollenwechsel gewidmet war. Es passt zur Aktualität, und Christina lebt in diesem Text.

 

 „DER ROLLENWECHSEL IST EIN PROZESS“

Übergänge und Rollenwechsel sind bei Christina von Passavant ein Dauerthema. Neben dem beruflichen Ausstieg gibt sie auf Ende 2017 auch die Führung des Forums Luzern60plus ab, das sie seit dem Aufbau vor fünf Jahren als Präsidentin wesentlich geprägt hat.

Von René Regenass (Text und Bild)

„Mann oder Frau muss sich im Leben eine neue Rolle geben…“ So stand es auf der Vorderseite der Einladung zum 70.Geburtstag von Christina von Passavant. Und hinten dann: …Neue Rollen auszuprobieren kann Spass machen.“ Der weise Spruch stammt von Pipilotti  Rist. Er passt perfekt zu Christina. Man spürt es ihr förmlich an, wenn sie ausprobiert, wie die neue Rolle passt, die Rolle im Beziehungsfeld, in der Arbeit, als Gesprächsleiterin, an einer Sitzung, oder irgendwo.

Zum Beispiel als Strassenwischerin in Luzern! Ja, das hat sie auch getan. In diesem Frühjahr wollte sie wissen, wie die Reinigung in der Stadt Luzern laufe. „Zuerst habe ich mich theoretisch schlau gemacht, dann mit der Equipe des Stadtteils Mitte morgens um fünf Uhr zu wischen begonnen.“ Nach dem Znüni ging es dann noch um die Optimierung eines Wasserablaufs auf dem Inseli. „Weil ich leichtsinnerweise erzählte, ich hätte einmal einen Maurerkurs besucht, wurde ich gleich handfest eingesetzt.“ Das sei übrigens eine tolle Erfahrung gewesen mit Männern, mit denen sie sonst kaum in Kontakt gekommen wäre.

Rollengerüste fallen weg
Und jetzt, nach dem Siebzigsten, wie sieht diese Rolle aus? Christina von Passavant: „Gewisse Rollengerüste sind weggefallen, einerseits durch die beruflichen Veränderungen, aber auch im Alltag. Und es entstehen keine neuen Rollen mehr, die Identifikation ermöglichen.“

Aber sie könne durchaus in neue Rollen schlüpfen, sagt Christina von Passavant, zum Beispiel als Ersatzgrossmutter von Efrata, dem vierjährigen Mädchen, das als Kind einer eritreischen Mutter und eines äthiopischen Vaters hier geboren wurde. Vater und Mutter kamen unabhängig voneinander in die Schweiz, lernten sich erst hier kennen und heirateten. Oder die Rolle als Stiftungsrätin des Gelben Hauses,  ein famoses Kunst- und Kulturprojekt in Luzern. „Damit schaffe ich mir Kontakte zu jüngeren Menschen. Doch das sind nicht Rollen, welche Identität geben.“ Dazu zählte auch die vorübergehende Rolle als Patient nach einer Fussoperation. „Das hat mir gar nicht gepasst, weil ich in meinem Leben bisher von grösseren gesundheitlichen Störungen verschont geblieben bin.“ Dieses Erlebnis hat Christina schlagartig gezeigt, dass sie als Patientin älter geworden ist. Sie konnte den medizinischen Aufwand nicht nachvollziehen. Auf ihre Frage, ob die Mediziner mit ihr Kosten amortisieren wollten, erklärte man ihr, sie gehöre jetzt zu einer Risikogruppe. „Plötzlich bin ich in der Rolle der Bedürftigen. Ich wachse in Passivrollen hinein. Oder ich erhalte ein Aufgebot zur medizinischen Kontrolle als Motorfahrzeugführerin. In diesen  Rollen fühle ich mich nicht sonderlich wohl, das spüre ich. Früher habe ich meine Rolle selber gestaltet. Als Beraterin hatte ich Ärzte und Behörden als Kunden. Jetzt ist die Perspektive schon eine ganz andere.“

„Die schrullige Alte"
Die Passivrolle – wo spürt man das in der Öffentlichkeit? Christina von Passavant: „Das spüre ich in jedem Laden. Der Unterschied zum beruflichen Umfeld ist riesig. Wenn ein Beratungsauftrag zu Kritik am Führungsstil in einem Unternehmen führte, wurde ich akzeptiert und erst noch gut bezahlt dafür. Kritisiere ich heute, riskiere ich, als schrullige oder schwierige Alte eingestuft zu werden.“ Macht der Rollenwechsel Mühe? „Es ist interessant bis erstaunlich, jedoch keinesfalls lustig. Es ist ein Prozess.“ Christina traf in ihrem Beruf oft auf  eingefahrene Strukturen, auf den Filz, den sie liebend gerne aufzulösen versuchte. „Jetzt bin ich selber daran, mich zu kompostieren, mich neu einzuordnen“, sagt sie lachend über den Tisch.

„Ich produziere Überqualität“
Arbeit und Alter – ein Übergang den alle erleben. Gab es Ereignisse, wo das eine das andere belastete? Christina von Passavant: „Es war eine grosse Auseinandersetzung, vorweg auf der Ebene der Energie. Ich war viel im Ausland unterwegs, an mehrtägigen Workshops zum Beispiel. Da reiste ich am Sonntag in München an, leitete den Workshop bis am Mittwoch und stand dann am Donnerstagmorgen in Zürich vor einer andern Gruppe. In den Nächten wartete die Vorbereitung oder Nachbearbeitung. Und plötzlich merkte ich die Belastung, brauchte immer mehr Zeit für die Regeneration.“ Als Christina vor etwa zehn Jahren beruflich zu reduzieren begann, nahm sie gleichzeitig wahr, dass sie für alles mehr Zeit benötigte. Das Beispiel: „Früher machte ich in Zeitnot ein Referat, und Kunden und Publikum lobten. Jetzt habe ich mehr Zeit dafür und werde umständlich. Ich will genauer abklären, jenes Telefon machen, und dies und das abchecken. Ich produziere Überqualität, die niemandem etwas bringt.“

Was konkret hat Christina von Passavant beruflich abgegeben? Zuerst schränkt sie ein: „Ich habe immer noch Anfragen für Beratungen, Konfliktmanagement, usw. Und ich sage mit Freuden ab. Das tut gut. Schwierig wird es erst, wenn ich die wohlwollende Kritik von jüngeren Menschen zu vermissen beginne.“ 

Die bezahlte Rolle ist weggefallen
Spüren, dass man nicht mehr dazugehört! Wann trifft dies ein? „Wenn ich „Zehn-vor-Zehn“ einschalte und auf Gesichter treffe, die ich kenne. Aus der Politik, aus Verwaltungen, aus der Wirtschaft. Zum Beispiel Politikerinnen oder Mitglieder von Geschäftsleitungen, die ich beraten habe. Das gab Einblick in Themenbereiche, die sonst wenig zugänglich sind. Und das fällt jetzt weg.“ Dann schiebt Christina nach, ohne zu klagen, wie sie sagt: „Nicht nur die Menschen, auch das regelmässige, gute Einkommen bleibt weg.“ Sie bewege sich heute anders, die bezahlte Rolle sei weggefallen. „Die eigene Arbeit „anschaffen“ können, Rechnungen schreiben – das war halt schon gut fürs Selbstwertgefühl. Das ist der wichtige Rollenaspekt im Zusammenhang mit dem Einkommen.

Christina von Passavant hat also bis 70 gearbeitet, nicht in der gleichen Intensität wie früher, aber trotzdem. Ist das gut gegangen, leicht gefallen? „Ich sehe ab und zu Frauen wie Männer am Ende ihrer Berufskarriere, und das ist häufig ein Elend. Ich kam mit Beat Däppeler, meinem Lebenspartner, 2002 nach Luzern. Mit dem Betrieb „Stellwerk für Entwicklungsmanagement“ starteten wir dann beruflich noch einmal durch. An der Morgartenstrasse waren wir fünf Beraterinnen und eine Sekretärin. Nach fünf Jahren übergab ich den Betrieb den jüngeren Kollegen und mietete ein kleineres Büro an der Hirschmattstrasse. Das war ein guter Entscheid, den zwar fast niemand verstanden hat. Neben einzelnen jetzt eher kleineren Aufträgen standen damals anspruchsvolle Aufgaben in meiner Funktion als Verwaltungsratspräsidentin der „Schützen Rheinfelden AG“ an.“ Die Schützen Rheinfelden AG umfasst drei Hotels, in denen neben der normalen Gastronomie eine psychosomatische Klinik mit hundert Betten und verschiedenen Aussenstationen geführt wird.  2012 gab Christina von Passavant ihr Büro auf und behielt bis im vergangenen Jahr, neben einzelnen Aufträgen, noch das Mandat in Rheinfelden. Diesen schrittweisen Abbau bezeichnet sie heute als komfortabel.

Der Einstieg in die Berufswelt

Unternehmens- und Organisationsberatungen, Konfliktmanagement, Führungsfragen – wo kommt das Gespür für diese zum Sozialfeld gehörenden Aufgaben her? Christina von Passavant spricht zuerst die 68er-Bewegung an. „Ich hatte in der ganzen Berufswahl eine hohe Freiheit. Ich erlebte in Basel extrem schwierige Familienverhältnisse, umgeben von einem völlig verarmten Adel auf Vaterseite und einem Kleingewerbestil der Mutter. Als Kind musste ich mich in diesem Familiensystem orientieren. Als Jugendliche fiel ich ziemlich „dem Teufel ab dem Karren“, hing in Jugendgruppen herum. In der Maturaarbeit befasste ich mich mit der Entwicklung von Jugendlichen in Jugendgruppen.“

Die Zeit der Berufswahl sei belastend gewesen. Kein Geld, der Vater in Zürich, die Mutter in Basel. Die Möglichkeiten für ein Studium waren sehr eingeschränkt. Schliesslich hörte Christina von Passavant von einem Lehrgang für soziale Gruppen- und Gemeinwesenarbeit in Gwatt, wo es auch ein Internat gab. Dort stieg sie ein. In Holland folgte das Studium in Agologie und Sozialpsychologie. Zurück in der Schweiz wirkte sie von 1970 bis 1974 als Dozentin in der Schule für Sozialarbeit in Gwatt, die auch Dienstverweigerer aufnahm. „Die Berner Kirchen strichen uns deswegen die Beiträge, was zur Zwangsfusion mit der Berner Abendschule führte. Dort erlebte ich das ganze Herrschaftssystem von Kirche und Geld“, sagt von Passavant heute. Nachher begann sie mit 28 Jahren mit der selbständigen Arbeit. Im Vordergrund standen Aufbau und Beratung von selbstverwalteten Betrieben: Zusammen leben und zusammen arbeiten. „Dieses Thema hat mich fasziniert. Wie schafft man das, dieses Wirken im Alltag in ständiger Konfrontation?“ Später folgte die Ausbildung in Organisationsentwicklung, anschliessend eine Kurstätigkeit im deutschen Sprachraum. Dadurch ergaben sich Kontakte zu andern Geschäftsfeldern, weg aus dem Sozialbereich.

Thema Übergänge wieder: 1984 war eine der grossen Hungerkrisen in Äthiopien. Christina hatte vom DEZA und vom Kinderdort Pestalozzi einen humanitären Auftrag im Land, befristet auf sechs Wochen. Heute sagt sie: „Zurück in der Schweiz hielt ich die Sattheit und Verwöhntheit in meinem beruflichen Umfeld als Dozentin nicht mehr aus. Ich war erschüttert und wusste, dass ich viel ändern musste, um anständig weiterleben zu können.

Forum Luzern60plus: Mit dem Resultat hoch zufrieden
Zum nächsten Übergang: 2011 hat Christina von Passavant im Auftrag des damaligen städtischen Sozialdirektors Ruedi Meier den Aufbau des Forums Luzern60plus als Nachfolgeorganisation des Seniorenrates an die Hand genommen. Fast ein Jahr lang suchten Arbeitsgruppen, Workshops, Echogruppen nach einer Form dieses notwendigen Übergangs. Was geht da auf, wenn Christina an den Anfang und an heute denkt?

„Am Anfang stand die notwendige Fusion Luzern-Littau im Seniorenrat. Ich war damals noch nicht lange in Luzern und nahm diese Aufgabe an, nicht zuletzt um hier Kontakte aufzubauen. Die Frage, die mich vor allem anspornte: Ist es möglich, Menschen über 60 dazu zu bringen, ihre Rechte und Mitsprachemöglichkeiten zur Gestaltung eines Gemeinwesens wahrzunehmen? Auf der einen Seite steht der Anspruch der Gruppe, auf der andern der Beitrag in der Öffentlichkeit. Gelingt diese Form von Demokratisierung? Das war die Frage, die mich interessierte. Mit dem Resultat, das heute vorliegt, bin ich hoch zufrieden. Wir haben Einfluss genommen in der Stadtverwaltung, beim Service Public. Klar muss man da und dort Abstriche machen. Aktuell läuft fast etwas zu viel rund um das Thema Beteiligung der Alten. Aber das Experimentierfeld ist beachtlich. Es ist auch eine Erfahrung, aus der viel zurückkommt.

Und jetzt gibt Christina von Passavant in absehbarer Zeit auch das Präsidium des Forums Luzern60plus ab. Ein weiterer Übergang. Wenn Christina von Luzern und vom Experimentierfeld und den vielen Kontakten erzählt, meint man, sie lebe schon lange in dieser Stadt. Dabei zog sie erst 2002 hierher, mit ihrem Lebenspartner Beat Däppeler, der zum Stabschef in der städtischen Sozialdirektion gewählt wurde und später Personalchef der Stadt Luzern war. 2004 heirateten Christina und Beat, nach 18 Jahren Zusammenleben.

„Ich fürchte, keine Rolle mehr zu haben“
Ich spreche das Altwerden an: „Was mir im Hinblick auf das kommende Alter Angst macht, ist der Verlust von Resonanz. Sie kommt vielleicht nur noch dann, wenn ich die Leute im Altersheim ärgere, was mir sicher gelingen wird. Langweilig wird es mir sicher nicht. Ich habe keine Horrorvorstellung vor dem Altwerden. Aber ich fürchte echt, keine Rolle mehr zu haben. Wenn die Abhängigkeit zu gross wird und die Lebensqualität wegen Krankheiten für mich nicht mehr stimmt, sehe ich die Option, ein Ende herbeizuführen, vorausgesetzt, ich sei dann noch handlungs- und urteilsfähig.“
René Regenass – November 2016

rene.regenass@luzern60plus.ch