Das Agassizhorn oder: Die kollektive Amnesie

Von Meinrad Buholzer

Ich erinnere mich, wie wir uns früher über die in kommunistischen Staaten gängige Praxis der Geschichtsfälschung mokierten. Wer beim Politbüro in Ungnade gefallen war, wurde aus den Geschichtsbüchern entfernt, aus Fotos wegretuschiert, sein Name durfte nicht mehr genannt werden. Diese Praxis war der schlagende Beweis, dass wir im Westen in einem besseren System lebten. Sowas war bei uns undenkbar. Dachten wir.

Heute wird auch bei uns munter drauflos manipuliert. Es gibt Bestrebungen, sexistische oder rassistische Passagen aus der Literatur zu eliminieren; z.B. das Wort „nigger“ aus den Werken von William Faulkner zu streichen oder den französischen Antisemiten Céline aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Anrüchigen Personen geweihte Strassen und Plätze sollen neu benannt werden. Man fordert sogar, die Raucher oder wenigstens die Passagen mit Zigaretten aus alten Filmen herauszuschneiden. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es um die Verbannung von ungeliebten oder unkorrekten Elementen geht.

Zeit der einstürzenden Denkmäler. In New Orleans wurde kürzlich die Statue des Südstaaten-Generals Robert Lee von ihrer Säule auf dem Lee-Circle zwar nicht barbarisch gestürzt, aber schön zivilisiert per Kran entfernt. Lee stand einfach auf der falschen Seite, er verteidigte im Bürgerkrieg die Sklavenhaltung im Süden. Dort diente der Lee-Kult bis in jüngste Zeit dazu, die Demütigung durch die „heldenhafte“ Niederlage im Bürgerkrieg zu zelebrieren und die eigene Vergangenheit schön zu reden.

Auch die Schweiz ist keine heile Oase in dieser Welt des Imperativs der permanenten Korrektheit. Gefordert wird zum Beispiel, das nach dem Naturforscher Louis Agassiz benannte Agassizhorn in den Berner Alpen umzubenennen. Stein des Anstosses: Agassiz machte sich einen Namen mit bemerkenswerte Studien zur Eiszeit, leider aber auch mit der Unterscheidung von höheren, zivilisierten, und niederen Rassen (den Schwarzen).

Es gibt also hier wie dort gute Gründe, aufzuräumen mit unseligen Gespenstern. Die Frage ist nur, ob wir es besser machen, wenn wir die alte Verdrängung durch eine neue –die einher geht mit einer zunehmenden Geschichtsvergessenheit – ersetzen? Denn mit der Verbannung der ungeliebten Vergangenheit wird diese „gereinigt“ und „gesäubert“. Wenn die diskriminierenden Passagen aus der Literatur gelöscht werden, erhalten wir eine erbauliche Weichzeichnung und den Eindruck, dass es ja gar keinen Rassismus gegeben hat. Dass die Leute, auch die Helden, früher nicht geraucht haben. Dass Sexismus nie ein Thema war. Ob solcher Verklärung vergessen wir dann auch, dass es Sklaven gab. Und räumen damit mindestens eine Hürde, die eine Wiederholung des Verbannten erschwert, aus dem Weg. Statt Aufarbeitung der ungeliebten Vergangenheit verhindern wir eine Auseinandersetzung und basteln uns eine heile Welt. So gesehen ist „politische Korrektheit“ eine Amnesie, die sich über unsere Herkunft legt, ein Sauberkeitswahn. Sie wäscht einfach weisser… Und macht es  leichter, bei einem nicht auszuschliessenden Mentalitätswandel einfach wieder die Namen zu ändern; Lee würde dann wieder ein Säulenheiliger. Denn Denkmäler können uns ja auch auf die „Flecken“ in unserer Vergangenheit hinweisen.

Nun muss ich gestehen, dass ich mich in eine kleine Sackgasse manövriert habe. Zwar bin ich nach wie vor der Ansicht, dass man den Namen Agassiz nicht aus dem kollektiven Gedächtnis streichen soll, weil er uns nicht nur an die Zwiespältigkeit einer einst prominenten Figur (und damit an die Relativität von Ruhm und Ansehen) erinnert, sondern auch an eine Wissenschaft, die sich allzu gerne mit dem Bild der nüchternen, nur auf das Beweisbare gestützten, sauberen und unfehlbaren Grösse feiert. Aber ehrlich gesagt: Von der dunklen Seite dieses Gelehrten weiss ich paradoxerweise erst, seit die Forderung nach seiner Verbannung aus den Berner Alpen erhoben wurde …
27. Juli 2017