Chinesen sind keine Roboter! 

Von Michael Kuhn

Über China soll ich schreiben, meinte ein Freund. Weil ich jedes Jahr Wochen dort verbringe, viele Chinesen kenne. Und weil das Bild von China und den Chinesen in der Schweiz total falsch sei. Das stimmt. Also. Und nein, keine Bange, Menschenrechte kommen auch noch zu Wort. Am Schluss.

Ich beginne mit dem täglichen Leben in China. Zusammen lachen, essen, scherzen, auch über die Lokalregierung und die Partei, sich lieben, abtanzen, geniessen. Das ist China. Eine gute Stimmung in Strassen und Gassen, ein pünktlicher, oft hochmoderner Öffentlicher Verkehr mit Hochgeschwindigkeitszügen, Trams, Metronetzen, Stadtfähren und Stadtseilbahnen.

Es sind die lachenden Kinder nach der Schule, die «tanzenden Tanten», die sich beim Eindunkeln zu oft dröhnendem China-Pop auf öffentlichen Plätzen und Parks bewegen. Es ist das Grün, die Bäume, die schier unzähligen Parks und Flaniermeilen. Denn, ja, chinesische Städte sind meist grosszügig bepflanzt, mit Zonen nur für Fussgänger, mit separaten Spuren für Langsamverkehr, mit grosszügigen Joggingstrecken, mit viel Wasser und Lebensqualität. Es sind die Freunde, die sich ungezwungen treffen, über alles reden, es ist die Familie, die für alle ein zuverlässiger Rückhalt ist, manchmal ein nerviger, vor allem für die jüngeren Generationen, die den älteren teils davongeeilt sind. Es ist das frische, schmackhafte Essen, das überall und jederzeit genossen werden kann.

Kostenloser WLAN und Minergiebauten
Es sind hochmoderne Stadtquartiere mit kostenlosem WLAN und 3D-Bildschirmen, Minergiebauten, Wolkenkratzer gebaut nach den höchsten ökologischen Standards, für Fussgänger und Velofahrende optimiert mit ÖV-Anschluss, begrünten Dächern und einem farbigen Mix aus Arbeits-, Konsum- und Kulturwelt. Dann die riesigen, kaum bewohnten Gebiete Chinas, die zwei Drittel der Landesfläche ausmachen. Sie reichen von tropischen Inseln bis zum Gletschereis im hohen Norden, von Palmen bis zu Birkenwäldern, von Vulkanseen, heissen Quellen, Wüsten, Sumpfgebieten, bis zu den Hochebenen und dem Grasland der inneren Mongolei. Es sind diese schier unendlichen Weiten etwa im Nordwesten der Provinz Sichuan, die einem von Ehrfrucht innehalten lassen. Auf einer Höhe von 3500 bis 4500 Metern. Alles grün, Wasserfälle, Bäche, Klöster, Tempel, hunderttausende Yaks – eine Rinderart -, Pferde, auch nach zehn Stunden Autofahrt pro Tag – über fünf Tage hinweg, und das auf perfekt ausgebauten, breiten Strassen. Und freundliche, neugierige, humorvolle Menschen.

«Die Leute aus dem Westen kriegen immer einen Kulturschock, weil sie staunen, wie weit China schon ist», sagte mir meine Freundin Lu vor Jahren. Eine Chongqingerin. Ihre Heimat ist eine Grossstadt auf einer Fläche von Österreich, mit 9 Millionen Menschen im Stadtzentrum und total über 32 Millionen Einwohnern. «Umgekehrt haben wir höchstens einen, weil wir feststellen, dass bei Euch vieles nicht so gut läuft, wie wir es uns vorgestellt haben.» Sie lacht. Kurt, ein anderer Freund aus Shenzhen, der für ein Jahr in Amsterdam studierte und schon durch Frankreich, Grossbritannien, Deutschland und die Schweiz gereist ist, meint: «Wir wissen, dass unsere Medien zensiert werden. Ihr aber habt die Schere im Kopf.»

Und diese Schere hat es in sich. China sei dreckig, wird kolportiert. Tatsächlich sind die Städte mindestens so sauber wie in Westeuropa. Die Luft sei kaum auszuhalten. Im Juni habe ich vier Nächte in Peking Mond und Sterne gesehen, an den Tagen war der Himmel strahlend blau. Wie zuvor 14 Tage in vier anderen Grossstädten. Ja, Smog gibt es. Vor allem im Nordosten Chinas während den Wintermonaten. Doch dieser schwindet Jahr für Jahr mehr, und die ehrgeizigen Luftverbesserungsziele für 2020 wird China wohl erreichen. Die Menschen würden sich unsere Form der direkten Demokratie wünschen, wird behauptet. In fünfzehn Jahren habe ich nicht eine Chinesin, nicht einen Chinesen getroffen, der sich ein politisches System wie in der Schweiz wünscht, auch wenn viele sich sehr wohl mehr demokratische Mitbestimmung erhoffen. Ein System wie in der Schweiz, so die gängige Meinung, würde nicht funktionieren für 1'350 Millionen Menschen. Chinesen sind pragmatisch. Sie nehmen an den lokalen Regierungswahlen teil – ja, die gibt's, landesweit –, sie opponieren direkt, wenn sie mit neuen Bauprojekten nicht einverstanden sind, ziehen bei drohenden Enteignungen mit ungenügender Abfindung vor Gericht und organisieren sich, wenn sie juristische Urteile nicht nachvollziehen können. Oft werden so Metrolinien anders verlegt, der Schutz von Kindern vor häuslicher Gewalt verbessert, die Umweltstandards erhöht oder Politiker und Parteifunktionäre abgesetzt. Denn wenn die Partei und die Lokalregierungen auf eines bedacht sind, dann darauf, dass sich die Chinesinnen und Chinesen wohl fühlen und sich der Lebensstandard für immer mehr Menschen massiv verbessert – nur das sichert ihnen die weitreichende Unterstützung, welche das politische System nach wie vor geniesst.

Emotional, direkt, humorvoll
Das respektloseste Vorurteil von Europäern und US-Amerikanern gegenüber den Menschen in China: Chinesen seien Roboter. Ohne Persönlichkeit. Sie würden alles dem Kollektiv unterordnen. In Wahrheit sind auch Chinesinnen und Chinesen Individualisten – je jünger und urbaner, desto mehr. Mit eigenen Werten, Lebensentwürfen und Zukunftsvorstellungen. Sie sind emotional, direkt, humorvoll, hinterfragend. Und wunderbare, lebenslange Freunde.

Ist in China nun alles gut, gar perfekt? Natürlich nicht. Noch zu viele Juristen müssen für ihre Unabhängigkeit kämpfen, zu viele Lokalregierungen setzen die Umweltvorschriften aus Peking nur lax oder gar nicht um, zu viele NGO werden verboten und Beiträge im Internet zensiert, zu viele Eltern kriegen wegen fehlender Teilzeitarbeitsplätze Familie und Job kaum unter einen Hut, und der Tierschutz verbessert sich in einigen Provinzen zu schleppend oder kaum.

Doch in welchem Staat läuft alles optimal, welcher Staat muss sich keine Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen vorwerfen lassen? Wir exportieren Schaden und Schadstoffe mit Produktionsverlagerungen zu unserem eigenen Wohlbefinden in andere Länder und halten so unsere Westen vordergründig weiss. China und vor allem seine Menschen verdienen einen Dialog auf Augenhöhe, mit dem gebotenen Respekt, auch vor der 5000-jährigen Kultur. Und, bitte, niemand soll mich mehr mit Menschenrechtsfragen konfrontieren, wenn ich von einer Reise durch China in die Schweiz zurückkehre. Oder dann wenigstens das Thema bei allen Reisenden konsequent ansprechen: Nach einem Urlaub auf den Malediven, an der Ostsee und nach Ferien in den USA sowieso.

Das Wichtigste zum Schluss: Bilden Sie sich ein eigenes Urteil. Reisen Sie nach und durch China. Aber nicht in einer All-Inclusive-Gruppenreise. Reisen Sie alleine, zu zwei, zu dritt. Wenn ich das kann, können Sie das auch.

PS: Wer vor vier und mehr Jahren in China war: Bereisen Sie das Land der Mitte erneut. Der Wandel, vor allem auch der gesellschaftliche, ist rasant. Sie werden ein anderes China erleben; eines, das noch mehr beeindruckt. Positiv beeindruckt.

Zur Person
Michael Kuhn, geboren 1979 im Kanton Aargau, ist seit Januar 2014 stellvertretender Geschäftsführer Corporate Media bei der Zürcher Kommunikationsagentur Swisscontent. Bis Dezember 2010 war Michael Kuhn Mitglied der Chefredaktion, stv. Ressortleiter und Journalist bei verschiedenen On- und Offline-Publikationen, darunter der «Handelszeitung», der «Luzerner Zeitung» sowie «cashdaily». Danach arbeitete er als Projektleiter und Head of Digital Media für Ringier. Er wohnt mit seiner Partnerin und seinen zwei Kindern in der Stadt Luzern und bereist seit 12 Jahren China.