Beziehungen im Alter (1): Pensioniert - was machen wir gemeinsam?

"Ich mache nichts, du machst zu viel"

Seit einem Jahr sind wir beide pensioniert. Wie zeigt sich die "neue Freiheit" im Alltag, was bedeutet sie für die Beziehung? Wie viele gemeinsame Zeit gönnen wir uns? Wie viel Eigenleben brauchen wir?

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Das Schönste vorneweg: Seit einem Jahr geht kein Wecker in aller Herrgottsfrühe. Meine Frau, Irene Graf, muss nicht mehr zur Arbeit fahren, und ich kann das schlechte Gewissen des arbeitsbefreiten Rentners (das allerdings nie sehr ausgeprägt war) definitiv vergessen. Seit einem Jahr ist Irene ebenfalls in Pension, und das tut ihr gut. Sie ist viel entspannter.

Irene Graf: Das stimmt. Der Entscheid, mich ein Jahr früher pensionieren zu lassen, war genau richtig. Obwohl ich immer gerne gearbeitet und mich beruflich sehr engagiert habe, freute ich mich auf die Pensionierung. Ich bin in kein Loch gefallen, die Arbeit vermisse ich grundsätzlich nicht. Denn allzu Vieles blieb während der Erwerbsarbeit auf der Strecke, die Agenda war immer voll.

Was mir gefällt: Irene steht jetzt nach mir auf. So kann ich weiterhin in aller Ruhe das Frühstück einnehmen, die Nachrichten hören und danach in der Stube die Zeitungen lesen. Ich schätze diesen Alleinstart in den Tag - und  das gemeinsame ausgiebige Frühstück am Sonntag.

Irene: Ich bin froh, muss ich mich nicht an deinem Morgenrhythmus anpassen. Es wäre für mich schwierig, wenn wir morgens immer zusammen am Tisch sitzen müssten. Am Sonntag oder in den Ferien finde ich es aber wunderbar. Nach den Berufsjahren geniesse ich es, den Tag ruhiger angehen zu können.

Mehr Austausch im Alltag

Es sind die kleinen Dinge, die den Ehealltag angenehm machen. Zum Beispiel der Cappuccino, den mir Irene häufig am Vormittag serviert; es gibt nirgends einen besseren. Wir sitzen jetzt öfters gemeinsam am Küchentisch oder, wie in diesem herrlichen Sommer, draussen auf dem Balkon. Wir müssen nicht alles organisieren, der gemeinsame Alltag findet wie selbstverständlich statt. Was mir auch auffällt: Wir lachen oft zusammen - und nicht nur, weil unser Hörvermögen etwas nachlässt und wir uns zuweilen völlig falsch verstehen.

Irene: Wir haben mehr Zeit für den spontanen Austausch, auch tagsüber. Es muss nicht, wie früher, alles am Abend oder am Wochenende besprochen und organisiert werden. Was ich vor allem schätze: Ich muss nicht mehr alles so nebenbei und husch, husch machen. Und ich kann auch tagsüber ohne schlechtes Gewissen ein Buch lesen. Das Schwierigste ist, sich nicht zu viel vorzunehmen. Wenn ich zum Beispiel an alle noch zu lesenden Bücher denke, die Kontakte mit Freundinnen, die Archivierung der Fotos, das Ausmisten der Fachbücher, die Ausstellungen und Filme....

Es gibt Akzentverschiebungen im Alltag. Während unserer Erwerbszeit hatten wir Haushalt und Kinderbetreuung zu je fünfzig Prozent aufgeteilt. Wenn Irene bei der Arbeit war, redete mir zu Hause niemand drein. Jetzt haben sich die "Machtverhältnisse", etwa in der Küche, wieder etwas verschoben. Wenn Gäste kommen, kocht meistens meine Frau (was den Gästen zu gönnen und für mich bequem ist).

Irene: Du kochst ja auch viel, machst die Wäsche, beteiligst dich beim Putzen. Aber es stimmt schon: Ich schaue mehr zur Wohnung, bin bei Einladungen mit Lust in der Küche, versuche Neues auszuprobieren. Umgekehrt bin ich froh, wenn du den administrativen Kram erledigst, die Steuererklärung ausfüllst, Altpapier und Flaschen entsorgst.

Die gemeinsame Zeit organisieren

Während es im Haushalt ordentlich funktioniert, geben die ausserfamiliären Aktivitäten mehr zu diskutieren. "Ich mache nichts", titelte Irene kurz nach ihrer Pensionierung eine Kolumne in der Quartierzeitung. "Du machst zu viel", redet sie mir manchmal zu Hause ins Gewissen. Ich sei eigentlich noch gar nicht richtig pensioniert. Ich sehe das anders. Ich bin zwar beim Forum Luzern60plus engagiert, bekomme Anfragen für Vorträge oder Moderationen, beschäftige mich weiterhin mit Gerontologie und neuerdings mit Ornithologie. Doch meine Agenda ist, von einigen Wochen abgesehen, nicht verstopft. Und vor allem bin ich nicht fremdbestimmt. Aber ich gebe zu: Es ist nicht ganz einfach, die Balance zu finden: Wo und wie stark will ich mich engagieren? Was tun wir zusammen?

Irene: Für mich stellt sich die Frage: Muss man als Pensionierte immer aktiv sein und Ähnliches wie in der Berufsphase machen? Nach jahrzehntelangem, intensivem Berufsleben erlaube ich mir vorderhand einfach nichts zu tun. Eine leere Agenda und das Gefühl des Nichts-tun-müssen erfahren! Bis jetzt gelingt es mir recht gut, einzelne "leere" Tage zu haben. Ganz ohne Termine und Verpflichtungen geht es selbstverständlich nicht. Zu tun gibt es immer etwas. Dieses "Nichts" ist also auch für mich relativ.

So kann man es sagen. Nähen, Weiterbildungen (Fotografieren), Vorträge (bei der Seniorenuniversität) oder neuerdings treibt sie - im Gedenken an den hundertsten Geburtstag ihrer Mutter - mit viel Herzblut und viel Hartnäckigkeit Familienforschung. Ich bin froh darum. Zum einen mangelt es so nie an Gesprächsstoff (die Horrorvorstellung von langjährigen Ehen!), zum anderen gewinne auch ich Freiraum für meine eigenen Tätigkeiten. Doch wie viel gemeinsame Zeit bleibt, wenn beide viele Interessen und Freunde haben? Wir führen, ganz pragmatisch, neuerdings eine gemeinsame Agenda und halten uns in der Regel pro Woche einen Tag für gemeinsame Aktivitäten frei. So oder so gibt es mehr Gelegenheiten für spontane Vergnügen. Mit dem Schiff nach Brunnen fahren, an der Seepromenade einen Apero  trinken und dann bei Sonnenuntergang nach Luzern heimkehren. Oder wochentags mit dem Velo um die Horwer Halbinsel radeln und beim Krämerstein in den See springen - das ist die Freiheit, die das Leben nach der Pensionierung so lebenswert macht - und auch im Alter für romantische Momente sorgt.

Irene: Ich geniesse diese spontanen Aktionen! Dieses Jahr waren wir auch viel auf Reisen. Ich weiss nicht, ob wir in zehn Jahren noch so        unternehmenslustig sind und  mit unserem Gepäck unterwegs sein können. Andererseits bin ich auch sehr gerne zu Hause.

Nähe und Distanz in der Balance

Was tun wir gemeinsam? Was jeder für sich? Wenn beide zur Arbeit gehen, erübrigt sich - zumindest unter der Woche - diese Frage weitgehend; man ist froh, sich hie und da am Abend zu sehen. Als Pensionierte verfügen wir über die eigene Zeit. Ich bin auch gerne alleine unterwegs, etwa beim Wandern oder wie kürzlich für eine Woche in München, wo ich mich ungestört meiner Familienforschung widmen konnte. Ich brauche diese "Auszeiten". Wahrscheinlich ist diese Eigenständigkeit eines der "Erfolgsrezepte" für unsere langjährige Beziehung. Wir können Nähe und Distanz in einer guten Balance halten. Im Übrigen ist bei Irene - nach dem "ersten Lehrjahr" in der Pensionierung - nicht viel von Ruhestand zu spüren. Seit kurzem ist im Forum Luzern60plus als Mitglied dabei.

Irene: "Nichts tun" gefällt mir. Aber nur zu Hause sitzen kann ich mir nicht vorstellen. Ich suche zwar nicht aktiv nach neuen Tätigkeiten,  aber manchmal könnte ich mir vorstellen, meine Erfahrungen als Erwachsenenbildnerin und Organisationsberaterin bei Projekten einzubringen.

Wir leben seit 40 Jahren zusammen, seit 34 Jahren sind wir verheiratet. Wenn wir Glück haben, werden wir weitere zehn, zwanzig Jahre miteinander verbringen können. Was heisst das für unsere Beziehung? Bleibt alles, wie es ist? Oder gibt es unterschiedliche Interessen, die sich in verschiedene Richtungen entwickeln? Und wie arrangieren wir uns damit? Und was ist, wenn eines von uns krank wird? Wie werden wir damit umgehen? Was ängstigt mit dem Blick aufs hohe Alter?

Irene: Meine Eltern sind sehr früh gestorben, deshalb ging ich immer davon aus, selber höchstens fünfzig Jahre alt zu werden. Jetzt bin ich fast 64, und staune über jedes Jahr, das dazu kommt. Doch die Ängste sind geblieben, vor allem vor Krankheiten die uns neurologisch einschränken könnten, beispielsweise Parkinson, ALS oder Demenz. Würden wir solchen Herausforderungen gewachsen sein? Was ich mir im Moment nicht vorstellen kann: zu Zweit in einem Doppelzimmer im Betagtenzentrum zu wohnen. Das wäre mir dann zu eng. Es wäre schön, wenn wir gemeinsam, gesund und möglichst selbstbestimmt zusammen alt werden könnten.

Das Schönste in der Zeit nach der Pensionierung ist natürlich nicht der Wecker, der morgens nicht in aller Herrgottsfrühe schrillt. Am Schönsten finde ich, mehr gemeinsame Zeit zu haben, mehr auf Kleinigkeiten zu achten, den Alltag zu schätzen - und hie und da zusammen schöne Überraschungen zu erleben. Oder Entdeckungen zu machen: Zum Beispiel in den Tuilerien in Paris mit Hilfe einer Vogelapp das Teichhuhn zu identifizieren. Auf meine abschliessende Frage, welche Erwartungen sie denn an unsere gemeinsame Zukunft habe, sagt Irene lachend, sie möchte, dass es so weitergeht wie in den vergangenen 40 Jahren. Na dann.

28.9.2018

beat.buehlmann@luzern60plus.ch

Gemeinsam pensioniert (1)

Beat Bühlmann (67) und Irene Graf Bühlmann (64) leben seit vierzig Jahren zusammen. Sie haben zwei erwachsene Kinder im Alter von 34 und 32 Jahren. Um je hälftig Haushalt und Kinderbetreuung zu übernehmen, haben sie während der Familienphase immer Teilzeit gearbeitet. Irene Graf, Heilpädagogin, Erwachsenenbildnerin und Organisationsberaterin, war unter anderem beim Kanton Luzern im Bereich Sonderschulung tätig, zuletzt leitete sie die Abteilung Primarstufe am Heilpädagogischen Zentrum Hohenrain. Beat Bühlmann, Journalist und Gerontologe, arbeitete als Inlandredaktor beim Tages-Anzeiger und leitete von 2012 bis 2016 das städtische Projekt "Altern in Luzern". Beat Bühlmann ist seit dem Frühjahr 2016 pensioniert, Irene Graf seit dem Herbst 2017.