Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger
Der alte Mann und der Krieg
Von Meinrad Buholzer
Schon klar, ich greife vor. Wie sich die Geschichte in der Ukraine entwickelt, können wir heute nicht sagen. Und es wirkt immer deplaziert, wenn nicht gar lächerlich und naseweis, wenn da aus der verwöhnten Schweiz heraus Lob und Tadel an die Weltpolitik verteilt werden (ein unerschöpflicher Fundus dafür sind die Leserbriefseiten unserer Zeitungen). Aber – Stand Juni 2022 – behaupte ich: Wir haben Glück mit dem amerikanischen Präsidenten. Man will sich nicht vorstellen, welches Desaster sein Vorgänger angerichtet hätte.
Welche Häme schlug Joe Biden im Wahlkampf und nach der Wahl entgegen! Und was musste ich mir in meinem Bekanntenkreis alles anhören! Dieser alte, müde und langweilige Mann, ein Dattergreis, unfähig und ohne Ideen. Welches Armutszeugnis für die Demokraten, dass sie keine junge, vitale, dynamische Kandidatur zustande brachten. Dazu zwei Anmerkungen: Langweilig kann ihn nur nennen, wer keine Ahnung von seiner Biographie hat (aber diese Ahnungslosigkeit ist selbst in den Auslandsressorts unsere Medien weit verbreitet). Und zweitens: Ausschlaggebend war für mich: Dass er den Amtsinhaber geschlagen hat (und ihn vielleicht schon vier Jahre zuvor hätte verhindern können). Das zählt!
Und jetzt, nach Putins Angriff auf die Ukraine, läuft er zur Höchstform auf, zeigt staatsmännische Qualitäten, die auf dem politischen Parkett so rar geworden sind. Er beweist Entschlossenheit, aber auch Umsicht. Alle andern westlichen Staatsmänner, ob Hoffnungsträger oder Bedenkenträger, stehen in seinem Schatten. Er hat Putin gezeigt, dass er eine Grenze überschritten hat. Er handelt, bildet Koalitionen, hilft der Ukraine mit Waffen. Lässt sich aber nicht auf eine direkte Konfrontation ein, um nicht den Vorwand für die Ausweitung der Kampfzone zu liefern. Er ist zum Anführer der westlichen Welt geworden, nicht weil das sein Ehrgeiz ist, sondern weil nur er in das vorhandene Vakuum getreten ist.
Gründe dafür: Die Erfahrung, die uns der Zeitgeist (zu dem auch der Jungendkult gehört) ständig kleinredet und vermiest. Biden kennt nicht nur Amerika, er kennt die Welt und – in diesem Fall von Bedeutung – Putin. 2011 traf er ihn, als Vizepräsident, in Moskau: «Herr Ministerpräsident, ich schaue Ihnen direkt in die Augen, ich glaube nicht, dass Sie eine Seele haben.» «Wir verstehen uns», habe Putin lächelnd erwidert. (Dazu muss man wissen, dass Präsident Bush II. 2001, als er Putin traf, schwärmte, «er habe einen «Eindruck von seiner Seele» gewonnen).
Biden hat zudem Erfahrung mit dem Militär und immer wieder seine kritische Unbabhängigkeit gegenüber der Armeeführung unter Beweis gestellt. Obama schildert in seinen Memoiren einen Wortwechsel in Zusammenhang mit der Afghanistan-Strategie: «Hören Sie mir zu, Boss», so Biden, «vielleicht bin ich schon zu lang in dieser Stadt, aber eines erkenne ich, nämlich wenn diese Generäle versuchen, einen neuen Präsidenten an die Leine zu nehmen. (...) Lassen Sie sich von denen nicht blockieren.» Biden habe ihm damit einen Dienst erwiesen, schreibt Obama: Die unangenehmen Fragen zu unserem militärischen Vorgehen zu stellen.
Und schliesslich ist Biden mit seinen 79 Jahren über dem Alter, in dem man sich ständig nach den neusten Umfrageergebnissen zur Beliebtheit richten muss. Das hat eine erfrischende Wirkung auf dem politischen Parkett. Man ist es nicht mehr gewohnt, dass einer den permanenten Beliebtheitswettbewerb ignoriert.
Zum «alten» Biden ein Zitat vom Januar 2021:
Ja, der Mann ist nur vier Jahre jünger als ich. Wenn ich ihn so sehe, denke ich manchmal: «Da hast du dir was vorgenommen! Hut ab!» Aber tatsächlich bringt er etwas mit, was ihn für diese Herkulesaufgabe vielleicht sogar besser rüstet als einen jungen Menschen. Nicht nur all seine Erfahrung auf dem politischen Parkett, sondern auch die Verluste und Rückschläge, die er erlitten hat, schärfen den Blick für das Wesentliche. Ich wünsche Joe Biden jedenfalls von Herzen Erfolg. Es wäre ein Segen für die ganze Welt.
(Henning Scherf, der legendäre ehemalige Bürgermeister von Bremen [SPD], von der NZZ auf Joe Biden angesprochen.)
11. Juni 2022 – meinrad.buholzer@luzern60plus.ch
Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die «Luzerner Neuesten Nachrichten» LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.