Der Durchbruch ist geschafft

Von Judith Stamm

Die Aula der Universität Luzern war voll besetzt. Die Mienen erwartungsvoll. Rektor Bruno Staffelbach eröffnete am Morgen des 14.9. die Veranstaltung zu Ehren von Carl Spitteler (1845 – 1924). Es war ein berührendes Ereignis. Aus mehreren Gründen. Es knüpfte nicht am Geburtstag des Geehrten an. Auch nicht am Todestag. Nein, der Referenzpunkt war die Verleihung des Nobelpreises für Literatur vor hundert Jahren. Beschlossen vom Nobelpreiskomitee 1919.

Der Festredner, Professor Peter von Matt, ging zu Beginn seiner Ausführungen auf diesen Zeitpunkt ein: „Wir feiern hier und heute Carl Spitteler. Das ist erfreulich. Und wir feiern ihn, weil er vor hundert Jahren den Nobelpreis erhalten hat. Das ist ein bisschen merkwürdig. Es hat aber seinen guten Grund. Was der Nobelpreis ist, wissen nämlich alle, doch was Spitteler als Autor geleistet hat, ist weit weniger bekannt. Bei Spitteler verhält es sich immerhin so, dass wenigstens ein Werk von ihm dauerhaft im Gespräch ist, obschon es nur 17 Seiten zählt: seine Rede „Unser Schweizer Standpunkt“ vom 14. Dezember 1914, viereinhalb Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.“

Interessant war auch die Begründung für die Anwesenheit, welche Besucherinnen und Besucher beim anschliessenden Apéro formulierten.  „Ich gehe häufig am „Carl Spitteler Quai“ spazieren, wenn ich zu Fuss dem See entlang zur Stadt gehe. Aber von Carl Spitteler weiss ich nicht viel. Diese Lücke wollte ich heute auffüllen“ sagten mir mehrere Bekannte. Mir ging es auch so. Hatte ich schon je etwas von Carl Spitteler gelesen? Wenn ja, was war es denn gewesen?

Die Lücke wurde gefüllt. Grussworte der Kantons- und der Stadtregierungen wurden überbracht, Referate von Staatssekretärin Pacale Baeriswyl und Autorin Gisela Widmer gingen der Laudatio von Peter von Matt voraus. Ein Dokumentarfilm der Carl Spitteler Stiftung über Leben und Werk des Geehrten wurde gezeigt. Und auch die musikalische Umrahmung fehlte nicht.

Das war aber noch nicht alles. In Zukunft heisst der zweitgrösste Hörsaal der Universität Luzern „Carl Spitteler Auditorium“ (250 Plätze, Hörsaal 9, im Untergeschoss). Und eine neue Wandmalerei zwischen den beiden Hörsälen 9 und 10 zeigt die stilisierten Konterfeis von Carl Spitteler und seiner Frau Marie Spitteler-Op den Hooff (1863 – 1929).

Absolut meisterhaft, wie wir es von ihm erwarten, ging Peter von Matt unter dem Titel „Spittelers Mut“ auf die Rede „Unser Schweizer  Standpunkt“ vom 14. Dezember 1914  ein. Viereinhalb Monate nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde sie gehalten. Die Schweiz war in Gefahr, in zwei Sympathieblöcke zu zerfallen. Spitteler rief zum Zusammenhalt auf. Er wurde gehört, je mehr der Krieg nicht in eine Entscheidungsschlacht sondern in ein endloses Hinmorden junger Männer überging.

Nur, so harmlos, wie ich das jetzt hinschreibe, war die Nichtstellungnahme zugunsten der einen oder der anderen kriegführenden Partei  nicht. Das wusste Spitteler, das sprach er auch unmissverständlich aus.  Es betraf ihn, der in Deutschland beliebt war und gefeiert wurde, persönlich. Es lohnt sich, nein es ist staatsbürgerliche Pflicht, die Interpretation der berühmten Rede durch Peter von Matt genau zu lesen.

Bleibt noch die Frage, warum die junge Universität Luzern, gegründet  im Jahr 2000, sich in den Reigen der Gedenkveranstaltungen für Carl Spitteler einreiht? Dazu führte Rektor Staffelbach aus: „In diesem Sinn soll Carl Spitteler auch ein Vorbild sein für das, was im Hörsaal passiert:  Mut, selbständig zu denken, und zwar lautstark, wie es Coco Chanel einmal formuliert hat: Mut, unabhängig, unparteiisch und neutral zu forschen und zu lehren, wie es im Leitbild der Universität Luzern steht; Mut, Lehrenden und Lernenden Freiheiten zu geben, denn Planen kann man nicht lernen, wenn alles vorgeplant ist. Die Entwicklung der Kommunikationsfähigkeit bedingt, dass man das Sagen hat, und kritikfähig wird man durch Kritik.“

Sehr aufschlussreich ist das Vorwort von Professor Markus Ries, Prorektor der Universität, zur gedruckten Version des Referates von Peter von Matt unter dem Titel: „Carl Spitteler und die Universität Luzern: eine späte Verbindung“. Er skizziert die damals polarisierte politische Landschaft in Luzern, mit der die Gründung der Universität eng verbunden ist. Und stellt fest: „Grundstürzende Veränderungen in allen Bereichen waren notwendig, um die Distanz zu überwinden: Erst hundert Jahre später kam eine Beziehung zwischen Carl Spitteler und der Universität  Luzern zustande.  Voraussetzung war die Überwindung der weltanschaulichen Gräben und eine grundlegende Neugestaltung der politischen Landschaft.“

Mir scheint, diese Gedenkveranstaltung mit ihrem zahlreichen Publikum hat gezeigt: Der Durchbruch ist geschafft! - 19.9.2019
Luzerner Universitätsreden Nr. 34, Prof. em. Dr. Peter von Matt: „Spittelers Mut“
judithstamm@tic.ch

Zur Person
Judith Stamm, geboren 1934, aufgewachsen und ausgebildet in Zürich, verfolgte ihre berufliche und politische Laufbahn in Luzern. Sie arbeitete bei der Kantonspolizei und bei der Jugendanwaltschaft, vertrat die CVP von 1971 - 1984 im Grossen Rat (heute Kantonsrat) und von 1983 - 1999 im Nationalrat, den sie 1996/97 präsidierte. Sie war 1989 - 1996 Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen und 1998 - 2007 Präsidentin der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft.