Der Flaneur ist unterwegs

Vergangen, vergessen, vorüber

Von Karl Bühlmann

Flaneure gibt’s nicht nur in den Grossstädten. Auch in Luzern schlendern Müssiggänger durch Gassen und über Plätze, häufig mit entrücktem Blick, doch scharfäugig das Geschehen beobachtend. Sie nutzen die Schaufernster als Spiegel, beobachten über der Reuss die Möwen und zählen auf der Seebrücke die jeansgeschlitzten frostbeuligen Knie, merken sich Fibonacci-Autonummern, ärgern sich über farbenblinde Touristen auf den Fussgängerstreifen, versuchen spazierend einen Vierzeiler zu reimen und kommen mit Zufallsbekanntschaften ins Gespräch.

In der Cafeteria, höhere Lage mit Blick auf See und Rigi, lässt sich ein Mann, geschätzt U-70, am Nebentisch nieder, entrollt ein Produkt der papierverarbeitenden lokalen Druckindustrie, bestellt den Espresso, seufzt nach kurzer Lektüre auf und schaut zum Flaneur am Nebentisch.

Entschuldigen Sie bitte, darf ich fragen, was  Sie bekümmert?

Mii tuu! Häsch Täg, mii tuu. Die Vergangenheit holt mich ein.

Me too? Sie auch, Opfer oder Täter?

Anders als Sie meinen! In der Primarschule drückte mich Vikar Eugen S. auf die Schulbank und strich mir über die flaumige Brust. In der Philosophiestunde an der Kanti wollte Viktor S., seine feuchten Finger nicht von meiner Hand lassen. Je älter ich werde, desto mehr fühle ich mich als Opfer „grenzwertiger Übergriffe“, wie das Ding in der Fachsprache genannt wird.  Apropos Griff: Beim Felgaufzug an der Reckstange grapschte Turnlehrer Josef B. regelmässig an den musculus rectus, obwohl ich den Schwung auch ohne geschafft hätte.

Aber, aber, das war vor mehr als fünfzig Jahren! Wie ich Sie heute vor mir sitzen sehe, glaube ich nicht, dass Sie von diesen Berührungen, die Sie damals bestimmt nicht als pädophile Annäherung, sondern eher als Komplimente aufgefasst haben, nicht seelisch geschädigt wurden. Ist doch längst vergessen und juristisch obendrein verjährt. Gab es den Begriff Pädosexualität zu Ihrer Kantizeit überhaupt oder kannten Sie nur das bierselige Ex ad profundam?

Ich bitte Sie! Das Trauma erwacht im Alter! Gemäss Google-Auskunft kann eine sorgfältige Anamnese wichtige Hinweise auf Jahrzehnte zurückliegende traumatische Lebensereignisse wie Operationen, Unfälle, Überfälle, Naturkatastrophen oder sexuelle Annäherungen geben.

Aber wohin wollen Sie sich wenden? Der finanziell klamme Kanton Luzern wird bestimmt keine Ombudsstelle für vermeintlich unschicklich berührte 68er-Studis einrichten.

Da bin ich mir nicht sicher. Frei nach Schiller: Es rast der Luzerner See, er will sein Opfer haben!  Gerade lese ich in einem angesehenen Blatt, dass mehr als sechzig Jahre nach angeblichen sexuellen Übergriffen auf einen Ministranten die entsprechenden Vorwürfe gegen den Hildesheimer Bischof H.M.J. untersucht wurden, allerdings leider  „weder bewiesen noch entkräftet werden“ konnten.

Wissen Sie, was Freddy Quinn zu meiner Kantizeit gesungen hat? Der Refrain hiess:Vergangen, vergessen, vorüber, die Zeit deckt den Mantel darüber.“

Ausgerechnet Freddy Quinn! Wo ist Ihre humanistische Bildung verloren gegangen? Halten Sie sich lieber an Rilke: Die Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt uns nur mit dem Unbegreiflichen zu leben.

Da haben Sie Recht! Als Unschuld vom Land habe ich vieles lange nicht begriffen. Dass Frau Potiphar kein biblisches Solitärgeschöpf war, erfuhr ich erst Jahrzehnte später, an einer Klassenzusammenkunft.

Sie machen mich gwunderig. Noch eine Geschichte für den Klub der jungen Dichter in der hiesigen Gazette, die neuerdings auch aus dem Aargau inseminiert wird ?

Wenn ich als Erster beim Aufsatzschreiben fertig war, schickte mich der frisch verheiratete Junglehrer und Leutnant Seppi Sch. in den Kolonialwarenladen neben dem Schulhaus, wo ich ein Päckchen Mary Long kaufen und dieses seiner noch jüngeren  Frau nach Hause bringen musste. Es war eine Fata Morgana, alles neu für mich: geschminkte Lippen, Augenaufschlag, kurzer Rock und Einladung zum Sirup.  Ich bekam einiges nicht zusammen, aber an besagter Klassenzusammenkunft erfuhr ich, dass das Traumpaar von der Seetalstrasse noch im gleichen Jahr geschieden wurde.  Zufrieden, neugieriger Herr Flaneur?

Sie sind mir ein Filou Sie! Für diese Beichte spendiere ich Ihnen  einen stark pigmentierten Schokokuss mit Migrationshintergrund.

Äh was? Ich verstehe nur Bahnhof. Aha, einen Mohrenkopf?

Das dürfen Sie nicht so sagen, das ist rassistisch. Die Gender-Forscherin Franziska Schutzbach von der Universität Basel sagte bezüglich des Namens Mohrenkopf, und ich zitiere die seriöse NZZ: „Wenn wir nicht bereit sind, Sprache zu dekolonisieren, werden auch weiterhin Geflüchtete ertrinken.“

Das will ich nicht. Bringen Sie den Mohrenkopf, pardon, den Schokokuss an die Theke zurück.  Trinken wir doch lieber auf unsere erste Begegnung in Luzern am See ein Glas Apfelsaft aus Mostindien. Da reklamieren weder der Thurgau noch Indien.

Santé – bis zur nächsten zufälligen Begegnung.
8. Dezember 2017

Zur Person

Karl Bühlmann (1948), aufgewachsen in Emmen. Historiker und Publizist, tätig in der Kultur und Kunstvermittlung, Mitglied/Geschäftsführer von Kulturstiftungen. Autor von Büchern zur Zeitgeschichte und von Publikationen über Schweizer Künstler/innen. Redaktor der ‚Luzerner Neuesten Nachrichten‘, 1989-1995 deren Chefredaktor. Wohnhaft in Luzern und Maggia/TI.