Meinrad Buholzer. Bild: Joseph Schmidiger

Der Geist des Kapitalismus

Von Meinrad Buholzer

Als Kind hatte ich das Glück, die Eichmatt in Meggen kennenzulernen. Ein zum See abfallendes Grundstück, oben Gärtnerhaus und Scheune, die auch als Garage diente, in der Mitte die Villa, ein grosser Holzbau, am See das Bade- und Bootshaus; dazwischen Garten, Wiesen, Wald. Ein Wunder, dass dieser Landsitz, der damals einem portugiesischen Grafen gehörte, bis vor wenigen Jahren überlebte.

Dann hat ihn Alfred Gantner gekauft; einer der reichsten Schweizer, Gegner des EU-Abkommens (Allianz Kompass Europa), Mormone, als solcher schon als Seelsorger und Bischof tätig. Er hat die Eichmatt mit einem geschätzten Aufwand von 160 Mio. Franken gründlich umgepflügt; siehe angefügte Bilder.

Ein Beispiel, wie sich der Geist des Kapitalismus manifestiert und materialisiert. Kein Flecken bleibt ungenutzt, er ruht nicht, bis der letzte Misthaufen Gewinn abwirft, bis der letzte Mensch in seinem Dienst steht. Utilitarismus ohne Wenn und Aber.

Ob das sinnvoll ist? Das ist keine Frage, weil ein nicht bezifferbares Kriterium. Kapitalismus heisst: Expansion in Raum und Zeit, in jede Richtung, in jede Dimension. Immer höher, immer schneller, immer grösser, immer mehr! Bis Erde und Menschen ausgelaugt sind. Dann, wenn alles futsch ist: Auf ins All zur neuen Kolonisierung!

Früher gabs die Dreifelderwirtschaft. Ackerland wurde in drei gleich grosse Felder aufgeteilt, auf denen Sommer- respektive Wintergetreide gepflanzt wurde, während das dritte Feld brach lag, sich erholen konnte. «Brach» wurde aus dem Wörterbuch des Kapitalisten gestrichen. Was brach liegt ist nutzlos.

Der Geist des Kapitalismus ist ruhelos. Unentwegt sucht er Profit – zu Land, zu Wasser, in der Luft; ein sarkastischer Franzose hatte schon vor über 100 Jahren Parzellierung und Verkauf des Himmels vorgeschlagen – mit den Drohnen kommen wir dem ein Stück näher.

Beispiele gefällig? Manager, die ihr Gehalt in grenzenlose Höhen treiben. Optische und akustische Überreizung (Lärm). Omnipräsente Werbung; wir dürfen in mit Klebefolien von Einkaufszentren vollgeklebten öV-Bussen die Aussicht geniessen. Das mit «unverzichtbaren» Funktionen vollgestopfte Handy, dem immer neue «Dienstleistungen» aufgeladen werden; bald wird das alles ins Armband gestopft, dann werden wir gechippt. Die 24-Stunden-Gesellschaft mit Rundum-Beschäftigung, -Erreichbarkeit und -Einkauf: eine Droge, die permanent überfordert, die Reflexion, Ruhe und Erholung – auf profitable Weise – verhindert. Die faktische Verschwendungspflicht (Konsumismus), die das absolute Verschwendungsverbot früherer Zeiten liquidiert hat, damit das Rad am Laufen bleibt.

Völker, die wir primitiv nennen, waren sich bewusst, dass sie ein Tabu brachen, wenn sie Tiere getötet, wenn sie der Erde Nahrung abgerungen haben. Das bedurfte der Sühne, des Opfers. Dieses Bewusstsein von Kompensation haben wir mit den Religionen über Bord geworfen.

Der Kapitalismus mag positive Seiten haben (die ich nicht erwähnen muss, weil das auch ohne mein Zutun geschieht). Sein Problem: Es fehlt ein Widerpart, ein schwarzes Loch hat offenbar die Alternativen verschluckt. Kommunistische Experimente, wenn auch nicht so raffiniert, haben keine heilere Welt hinterlassen. Und der angeblich kommunistische Staatskapitalismus à la chinoise ist nicht besser; man könnte auf den Gedanken kommen, der Kapitalismus habe den marxistischen Staatskapitalismus erfunden, um die ganze Welt unter sein Dach zu bringen.

Portugiesische Grafen sind auch kein Heilmittel. Aber Sympathien mit erzkonservativen Landbesitzern, die sich der Spekulation und der totalen Mobilmachung des Kapitalismus verweigern und Dürrenmatts Frau Zachanassian abblitzen lassen, kann ich nicht verhehlen.

Die Eichmatt in Meggen einst und jetzt. Bilder: Google Earth


PS: Es sind nicht nur «böse» Kapitalisten, die glauben, es stehe ihnen alles zu, was vorhanden ist, und zwar sofort und möglichst gratis. Auch in der an sich verständlichen Forderung nach durchgehend öffentlich zugänglichen Seeufern steckt dieses Bedürfnis nach Ausnützung der letzten Flecken – der Natur wäre mit Brachen besser geholfen. In diesem Zusammenhang: Sloterdijk erinnert an die Französische Revolution und das, was man die «Erbsünde» der Frühsozialisten um Saint-Simon nennen könnte: Ihre Forderung, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beenden und die methodische Ausbeutung der Erde durch den Menschen einzuleiten – letzteres mit durchschlagendem Erfolg, ersteres weiterhin der Erfüllung harrend.

19. Oktober 2025 – meinrad.buholzer@luzern60lpus.ch


Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten (LNN). 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten – der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.