Der Grandgoschier

Von Meinrad Buholzer

Man kennt den Typ. Wir alle sind ihm schon begegnet. Meine frühesten Erinnerungen orten ihn auf dem Pausenplatz: Das Grossmaul – praktisch ausschliesslich in männlicher Ausgabe (weshalb wir bei der maskulinen Form bleiben).

Man kann ihm fast nicht ausweichen, er ist unübersehbar – vor allem unüberhörbar, denn pausenlos reisst er sein Maul auf, zieht über alles und jeden und jede her. Brüstet sich mit seinen Heldentaten. In Haltung und Auftritt ist er Gestalt gewordene Überheblichkeit und Selbstherrlichkeit. Die Welt beschränkt sich auf das, was innerhalb seines (beschränkten) Horizontes Platz hat, und sie kreist ausschliesslich um ihn (ein vorkopernikanisches Weltbild sozusagen). Von diesem Standpunkt aus ist alles andere minderwertig und zu vernachlässigen. Er teilt seine Umgebung klar in Anhänger und Gegner. Die einen werden mit Lobhudeleien, die andern mit Schimpf und Schande zugeschüttet. Einen Gegenspieler nachäffen oder einen Unbeholfenen ins Lächerliche ziehen gehört zum Repertoire seiner DNA, und nichts hindert ihn, nachzutreten, wenn einer schon am Boden liegt – dabei kann er auf eine johlende Gefolgschaft zählen, der er Vorbild und Animator ist. 

Er hat die Manie, alles, was nicht zu seinem Selbstbild passt, umzudeuten, umzubeugen, so dass es wieder passt, auch das Recht; Realität, Wahrheit und Fakten sind zu vernachlässigende oder allenfalls verhandelbare Grössen. Regeln sind dazu da, nach Belieben und wenn nötig auch nachträglich angepasst zu werden – damit er selbst, wie ein Korken, immer obenauf schwimmt. Selbstverständlich ist das Grossmaul ohne Fehl und Tadel, er weiss alles und kann alles (für das sokratische Wissen vom Nichtwissen fehlt ihm das Vorstellungsvermögen). Sollte ihm etwas nicht gelingen, dann liegt das nie bei ihm, sondern immer und ausschliesslich bei den andern – sie haben ihn getäuscht, belogen und betrogen. Selbst Misserfolge schummelt er nachträglich auf die Erfolgsseite. Er selbst ist unschuldig, doch schreckt er davor zurück, sich als Opfer zu bezeichnen, denn das passt nicht zur Selbsteinschätzung. Der Wortschatz ist in der Regel klein, wird aber von Superlativen dominiert; „Ich“, gross geschrieben, ist das am meisten verwendete Wort.  

Eine gewisse Smartness oder Cleverness – mehr intuitiv als intelligent – ist ihm nicht abzusprechen (allerdings greift sie wiederum nur innerhalb seines beschränkten Horizontes). Er erkennt den Bruder im Geiste augenblicklich. In seinem Kreis findet sich auch der Einschleimer. Das Gefolge wird hofiert, kann an der „Glorie“ teilhaben, wird mit Privilegien und Vergünstigungen warm gehalten – bis einer aus einer Laune heraus oder wegen eines falschen Wortes in Ungnade fällt.

Der Typus gehört zur Artenvielfalt des homo sapiens (sapiens?) und trägt damit zur Buntheit der Spezies bei; er gehört nicht zu den gefährdeten Arten, ist, im Gegenteil, eine Konstante der Weltgeschichte und zurzeit im Aufwind. Es geht die Vermutung, dass er temporäre klimatische Strömungen (oder Störungen?) auszunützen weiss. Solange sein Typus einer unter vielen ist,  hält sich der Schaden in Grenzen. Verhängnisvoll ist, wenn die natürlichen Gegner ausbleiben, er in der Hierarchie aufsteigt und freie Bahn hat, also niemand da ist, der ihm Paroli bietet. Zwar lässt sein Auftreten eine Schneise der Verwüstung zurück, in den meisten Fällen allerdings ist sein Wirken nicht nachhaltig – nur darf man sich nicht zu sehr darauf verlassen...
28. Februar 2017

Zur Person
Meinrad Buholzer, Jahrgang 1947, aufgewachsen in Meggen und Kriens, arbeitete nach der Lehre als Verwaltungsangestellter auf Gemeindekanzleien, danach als freier Journalist für die Luzerner Neuesten Nachrichten LNN. 1975 bis 2012 leitete er die Regionalredaktion Zentralschweiz der Schweizerischen Depeschenagentur SDA. Einen Namen machte er sich auch als profunder journalistischer Kenner der Jazzszene. 2014 erschien sein Rückblick aufs Berufsleben unter dem Titel «Das Geschäft mit den Nachrichten - der verborgene Reiz des Agenturjournalismus» im Luzerner Verlag Pro Libro.