Beat Demarmels ging Ende April in Pension.

„Der Individualität noch mehr Raum geben“

Heute würden die Kunden sagen, was sie wollten. Beat Demarmels wirkte fast 20 Jahre als Leiter der städtischen Betagtenzentren, zuerst bei der Stadt, dann 5 Jahre als Geschäftsführer bei Viva Luzern. Im Interview am Ende seiner beruflichen Laufbahn versucht er zu erklären, was anders geworden ist.

Von René Regenass (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Bei Viva Luzern gibt es einen Verwaltungsrat, früher war ein politisch gewählter Sozialdirektor Ihr Vorgesetzter. Wo lag der Unterschied, nicht in der Tagesarbeit, sondern im Verhältnis zu den „Oberen“?
Beat Demarmels: Bei Viva Luzern sind wir bei Entscheiden oder neuen Projekten schneller am Ziel als dies bei der Stadt der Fall gewesen ist. Dort hatte ich als direkter Vorgesetzter den Sozialdirektor über mir. Dazu kamen der fünfköpfige Stadtrat, die Sozialkommission des Grossen Stadtrates und schliesslich noch das Stadtparlament. Und bei Bauvorhaben brauchte es noch eine Volksabstimmung. Der ganze Prozess dauerte wesentlich länger als heute bei Viva Luzern. Hier wird ein Vorhaben in der Geschäftsleitung vorbesprochen, dann kommt das Geschäft in den Verwaltungsrat, wo direkt entschieden wird.

Was war in den Abläufen anders bei der Stadt?
In der Stadt war ich Dienstchef der Abteilung Heime und Alterssiedlungen. Zwei bis drei Personen unterstützten mich bei dieser Aufgabe. Aber Personal- und Finanzbereich waren in anderen Dienstabteilungen verwaltet und grösstenteils auch entschieden worden.  Da hatte ich weniger Einfluss auf die Arbeitsbedingungen oder auch auf den Umgang mit den Finanzen. HAS war innerhalb der Stadtverwaltung ohnehin eine Art Fremdkörper. Unser Personal bestand aus Pflegekräften und Fachleuten in der Hotellerie. Es gab kaum Büroarbeitsplätze wie im grössten Teil der Stadtverwaltung.

Meine Annahme: In der Stadt haben Sie wesentlich mehr selber entschieden als bei Viva Luzern. Es war vorher für Sie einfacher, die Betagtenzentren zu führen.
Nein, das ist ein falscher Eindruck. In der Stadtverwaltung hatte ich weniger direkten Einfluss, ich war so etwas wie Bittsteller für ein Projekt, ein Anliegen.

Mehr Dienstleister als früher

Wie funktionieren denn die Abläufe bei Viva Luzern?
Viva hat eine eigene Personalabteilung, eine Finanzabteilung, eine Kommunikationsstelle. Wir können die Bedürfnisse der Heime viel direkter aufnehmen und befriedigen, wenn wir es als richtig erachten. Wir sind heute dank Supports auf der Geschäftsstelle stärker in der Rolle des Dienstleisters der Heime als früher. Patrizia Infanger zum Beispiel ist in Geschäftsleitung von Viva Luzern zuständig für Pflege und Gesundheit. Wir haben damit Ressourcen, um die Qualitätsentwicklung in der Pflege voran zu bringen. In der städtischen Sozialdirektion gab es kaum Unterstützung in diesem Bereich. Ein anderer Bereich sind die finanziellen Rückstellungen, die wir vornehmen können. In der Verwaltung sind keine Rückstellungen möglich; sie muss die Steuereinnahmen auf den Bedarf ausrichten und ist dabei abhängig von der Politik. Wir haben zum Beispiel Rückstellungen vorgenommen, um an der Uni Basel die Ausbildung von geriatrischen Pflegeexpertinnen für unsern Betrieb finanzieren zu können. Um solche Projekte vorantreiben zu können, ist Viva Luzern selbständiger als die Stadtverwaltung.

Sind solche Vorteile auch spürbar im Verhältnis zu den Betagtenzentren? Angenommen, es braucht eine neue Pflegedienstleiterin im Rosenberg. In der Stadtverwaltung werden sie  diese Wahl getroffen haben, bei Viva Luzern entscheidet die Geschäftsleitung.
Einen solchen Personalentscheid hat früher die Leiterin des Rosenbergs getroffen, unter Anhörung meiner Meinung. Das läuft heute bei Viva genau gleich. Bei der Auswahl ist jetzt auch noch die Personalverantwortliche Gianna Di Cello dabei, doch Cati Hürlimann als Leiterin des Rosenbergs würde letztlich entscheiden.

Die Stadt muss die Versorgungsplanung leisten

Was war eigentlich ihr gesamter Verantwortungsbereich in der HAS?
Das Pflichtenheft war weniger umfangreich als heute bei Viva Luzern. Das hat sich weiterentwickelt in diesen 14 Jahren bei der Stadt. Am Anfang konzentrierte sich die Aufgabe stark auf die Versorgungsplanung. Es brauchte einen Planungsbericht für die Entwicklung der Pflegeheime: Angebote, Pflegebetten. Nachher kam die Organisation der Leitung der Heime dazu. Es brauchte ein Globalbudget, einen Leistungsauftrag. Das hat sich mit Viva verändert. Wir machen keine Versorgungsplanung mehr, das ist Aufgabe der Stadt, respektive der Sozial- und Sicherheitsdirektion (SOSID). Diese Zusammenarbeit mit der Stadt musste sich am Anfang einspielen. Heute haben wir einen guten Austausch mit der SOD.

Macht die Stadt diese Versorgungsplanung überhaupt?
Vor rund zwei Jahren ist ein Planungsbericht gemacht worden.

Eine bessere Vernetzung der Angebote in der Stadt wäre hilfreich

Haben sie Wünsche an die Stadt im Bereich der Langzeitpflege?
In der Stadt hat sich der Fokus von der stationären auf die ambulante Versorgung verschoben. Da habe ich manchmal den Eindruck, die Stadt konzentriere sich zu stark auf die ambulante Ebene. Für mich braucht es beides. Die Situation der einzelnen Menschen entscheidet. Und dies kann sich in kurzer Zeit verändern. Ich wünschte mir eine spürbarere Zusammenarbeit zwischen Spitex und Heimen. Es gibt immer mehr Menschen, die ferienmässig im Heim sind, um sich zu erholen und dann wieder nach Hause zurückkehren. Diese Durchlässigkeit wird wichtig in der Zukunft. In der Stadt gibt es immer mehr private Organisationen, die sich auf das Alter ausrichten: Caritas, Pro Senectute, Vicino. Und alle versuchen, im ambulanten Dienstleistungssektor etwa anzubieten. Das ist an sich gut, aber ich wünschte mir eine bessere Vernetzung dieser Angebote. Es gibt heute verschiedene Anlaufstellen für alte Menschen, von der Stadt, von der Pro Senectute, von Viva Luzern. Die Strategie ist nicht klar. Es gibt dadurch Verzettelung statt Konzentration.

Was hat sich verändert in all den Jahren, zum Beispiel im Personalbereich, Auswahl, Angebot?
Es hat sich nicht viel verändert. Es hat schon nach der Jahrtausendwende einen Pflegenotstand gegeben. Und bereits in den Achtziger- und Neunzigerjahren zur Zeit der Bürgergemeinde ging der damalige Personalchef Hansjörg Galliker nach Holland, um Pflegerinnen zu finden und anzustellen. Es gibt Wellenbewegungen beim Angebot. Das Thema begleitet uns seit Jahrzehnten. Und es wird sich angesichts desdemografischen Wandels wenig ändern. Andererseits: wir haben heute viele junge Leute, die in die Pflege wollen. Und Viva Luzern bildet viele junge Fachkräfte aus.  Heute sind es 160 Lernende.

Viva bildet Führungskräfte aus

Heisst das, dass auch der Mangel  an Fachkräften für die Führungs- und Teamleitungsebene zurückgeht?
So kann man es nicht sagen. Es ist nicht einfacher geworden. Aber wir haben mehr Erfolg bei der Besetzung solcher Stellen, wenn wir selber Leute für eine Führungs- oder Fachkarriere ausbilden.

In der Hälfte aller Abteilungen in den Heimen arbeiten jetzt geriatrische Pflegexpertinnen, welche die Pflegeteams bei komplexen Fragen und Fallbesprechungen unterstützen können.  Wir hoffen, dass die Uni Basel im Herbst die Ausbildung wieder starten kann, damit wir weitere Fachkräfte in diese Ausbildung schicken können.  

Das Thema ist in den letzten Tagen oft angesprochen worden: Es reiche nicht, dem Pflegepersonal zu klatschen, wurde gesagt. Wo sind Korrekturen nötig nach ihrer Meinung, neben dem Lohn zum Beispiel?
Es geht stark um die gesellschaftliche Anerkennung der Arbeit. Und diese geht natürlich über den Lohn für diese Arbeit. Wenn Politik und Gesellschaft diese Arbeit schätzen, müssen sie bereit sein, mehr zu bezahlen. Wir würden die Löhne gerne etwas erhöhen. Doch die Öffentlichkeit bestimmt den Preis.

Wenig Spielraum für Lohnerhöhungen

Was heisst das konkret?
Bei den Pflegekosten zahlen die Krankenkassen einen bestimmten Ansatz, der in der ganzen Schweiz gleich hoch ist. Einen kleinen Teil zahlen die Bewohner und die Restkosten, den grössten Teil zahlen die Gemeinden, abgestützt auf die verrechneten Pflegeminuten. Wir könnten mit der Gemeinde verhandeln, dass sie mehr zahlt. Aber das ist sozusagen aussichtslos. Also haben wir wenig Spielraum für Lohnerhöhungen. Die Kosten für Hotellerie und Betreuung zahlen die Bewohner. Da wird der Druck in den nächsten Jahren zunehmen,  weil die Betreuungssituationen schwieriger und die kommenden Generationen anspruchsvoller werden. Aber auch hier besteht wenig Spielraum für höhere Löhne, da bereits heute zwei Drittel der Bewohnerinnen und Bewohner Ergänzungsleistungen beziehen und diese die Gemeinden  zunehmend belasten.

Was dominiert im Rückblick auf ihr Berufsleben?
Rund zwanzig Jahre im gleichen Aufgabenbereich sind eine lange Zeit. Aber der Job hat sich in den Jahren stark verändert. Am Anfang war ich Stabsmitarbeiter von Bürgerrätin Vreni Moser, welcher die Heime unterstellt gewesen sind, dann Dienstchef in der Stadt und nachher Geschäftsführer bei Viva Luzern. Die Veränderungen waren prägend. Dazu zählt auch die neue Gewichtung zwischen der stationären und ambulanten Betreuung. Früher mussten alte Menschen nicht selten in einem Entlebucher Heim warten, bis sie in Luzern einen Platz fanden. Und der Heimeintritt erfolgte früher. Heute haben wir leere Betten und mehr Fluktuation.  Heute sagen die Kunden, was sie wollen. Die Nachfrage dominiert, nicht mehr das Angebot. Das heisst, wir müssen in den Heimen flexibler werden, der Individualität noch mehr Raum geben. Mir war das immer ein Anliegen: die Heime öffnen, auf die Bewohner und Bewohnerinnen eingehen. Wir dürfen den Tagesablauf nicht nach den Bedürfnissen der Mitarbeitenden richten, sondern nach jenen der Bewohnenden. In den letzten Jahren haben wir auch erreicht, dass viele Leute uns im Heim besuchen, ohne persönlichen Bezug zu einem Bewohner. Wir haben versucht, das Leben in die Heime zu bringen, mit Quartierveranstaltungen, Lesungen, Cafeteria-Angeboten.
5. Mai 2020