Hausarrest statt Gartenfreuden? 

«Menschenopfer für den Kapitalismus» 

 

«Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung."           
Artikel 8, Absatz 2, der Bundesverfassung zur Rechtsgleichheit

 

Die Risikogruppe 65plus isolieren und notfalls opfern, weil die Wirtschaft wieder laufen muss? Die Coronakrise befeuert «Babyboomer-Bashing» und Altersdiskriminierung.

Von Beat Bühlmann (Text) und Joseph Schmidiger (Bild)

Zuweilen sind die Wortmeldungen kaum zu fassen. «Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr wegen ihres Alters oder wegen schweren Vorerkrankungen ohnehin tot wären.» Das sagte zum Beispiel der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer im Fernsehsender Sat 1. Palmer empfahl, den Shutdown aufzulockern und ältere und kranke Menschen durch Isolation zu schützen.

Zum Schaden der Wirtschaft
Ohnehin tot? Wieviel Zynismus ist denn heute im Krisenmodus statthaft? Welche ethische Grundhaltung steht hinter einem Menschenbild, das Jung gegen Alt, Gesund gegen Krank ausspielt? Das «Menschenopfer für den Kapitalismus» fordert, wie es Thomas Assheuer in «Zeit Online» auf den Punkt gebracht hat. (Nur nebenbei: Vorerkrankte und ältere Menschen verlieren mit Covid-19 nicht ein halbes Jahr Lebenszeit, sondern laut Avenir Suisse im Durchschnitt 4,3 Jahre an Restlebenserwartung.)

Boris Palmer ist kein Einzelfall. Die Coronakrise bringe «tabuisierte Dunkelzonen ans Licht», konstatiert Assheuer in seinem Essay. Er verweist auf diverse andere höchst beunruhigende Statements aus Wirtschaft und Politik, die mehr oder weniger unverblümt forderten, die Alten zu opfern, um den schleichenden Tod der Wirtschaft zu verhindern. Auch der Tourismusunternehmer Samih Sawiris findet die Massnahmen gegen die Pandemie völlig überrissen, wie er in einem Interview mit der «SonntagsZeitung» erklärt. «In der Schweiz gehen Milliarden von Franken verloren, damit es einige Hundert weniger Tote gibt. Ich sehe das nicht ein.» Der Aufwand, um die an Coivid-19 erkrankten Menschen unter 60 Jahren zu retten, stehe in keinem Verhältnis zum Schaden für die Wirtschaft. «Bislang gab es in der Schweiz unter 200 Todesfälle in dieser Altersgruppe. Eher gewinnt man im Lotto, als dass man an Covid-19 stirbt.»

Die Alten isolieren
In diesem zynischen Kalkül spielt die ältere Bevölkerung über 60 Jahren schon gar keine Rolle. Stattdessen möchte Sawiris, wie es der Kanton Uri «am Anfang der Krise am besten gemacht» hat, in der ganzen Schweiz für Menschen über 65 einen vollständigen Lockdown verfügen. «Ich finde es schade, dass dies nicht zum Vorbild für die ganze Schweiz wurde.» Der Bundesrat hat stattdessen den selbstherrlichen Kanton Uri unverzüglich zurückgepfiffen. Ein Hausarrest nur für Rentnerinnen und Rentner wäre wohl verfassungswidrig. Auch ein Einkaufsverbot für Senioren, wie es der Tessiner Staatsrat ursprünglich verfügte (und später durch ein Einkaufsfenster für Senioren ersetzte), ist staatsrechtlich nicht haltbar, wie der emeritierte Züricher Strafrechtsprofessor Daniel Thürer und die Staatsrechtlerin Eva Maria Belser, gegenüber der NZZ festhielten.

Mit solchen Regeln seien die persönliche Freiheit und das Diskriminierungsverbot tangiert, erklärte Belser, Professorin für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg. «Ich gehe davon aus, dass ein Gericht eine aufgrund des Einkaufsverbots gesprochene Busse aufheben würde.» Auch die Task-Force des Bundesrates sah von einem Ausgeh- und Einkaufsverbot für Senioren ab. «Das haben wir diskutiert», sagte Matthias Egger, Präsident dieser Expertengruppe. «Aber es ist ethisch und sozial schwierig, eine Bevölkerungsgruppe derart einzuschränken.» Alain Huber, Direktor von Pro Senectute Schweiz, möchte ohnehin den Begriff der «Risikogruppe» enger fassen. Starr am Alterskriterium festzuhalten, könne bedeuten, dass ein Teil der Menschen über 65 Jahre ungerechtfertigt aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossen werde.

Beschimpft und angespuckt
Auch der Schweizerische Seniorenrat gibt in einem Offenen Brief an den Bundesrat zu bedenken, dass nicht alle Seniorinnen und Senioren automatisch gefährdet sind oder generell der Risikogruppe angehören. «Bereits heute werden über 65-Jährige in der Öffentlichkeit beim Einkaufen oder Spazieren kritisch angeschaut, sodass viele verunsichert sind und sich zunehmend aus dem sozialen Leben zurückziehen und vereinsamen.» Auffällig ist, von der Pro Senectute aufgrund von Rückmeldungen bestätigt, wie zunehmend ältere Personen ausgegrenzt und angeschwärzt werden. Ein Jogger wird beschimpft, eine Spaziergängerin von Bikern mit wüsten Worten zur Seite gedrängt, zwei Frauen auf einer Bank am Vierwaldstättersee bespuckt.
Sind das nur Einzelfälle? Es verstärkt sich der Eindruck, dass das «Babyboomer-Bashing» zunehmend an der Tagesordnung ist. Nur zwei Beispiele: Auf Watson sah sich Sarah Serafini bemüssigt, ihre Altersgenossen aufzufordern mit ihren Eltern und Grosseltern zu reden, damit sie endlich kapierten, dass sie draussen nichts mehr zu suchen hätten. Und im Tages-Anzeiger hielt Tim Wirth den Alten eine Strafpredigt («Wacht auf, liebe Senioren!») und warf ihnen Sorglosigkeit und Kurzsichtigkeit vor, weil sie sich nicht an die Corona-Regeln hielten. Genau solche Pauschalurteile machen die Altersdiskriminierung aus.

Auch der Philosoph Ludwig Hasler ist ein Meister in diesem Fach. In einem Interview mit der NZZ am Sonntag, auf der Titelseite als Gespräch «über die neue Problem-Generation» angekündigt, verunglimpft er die Rentnerinnen und Rentner als «die verwöhnteste Generation, die je auf diesem Planeten spazieren ging». Sie verhielten sich, als hätten sie lediglich eine Art Passivmitgliedschaft gelöst: «Sie wollen ein Leben im helvetischen Paradies, wollen alle Rechte, aber keine Pflichten.» Sitzt dieser Philosoph in seinem wunderbaren Garten und merkt nicht, dass sich nicht alle Alten auf Kreuzfahrtschiffen tummeln oder Golf spielen? Dass die Frauen und Männer der Generation 60plus Enkel hüten, Angehörige pflegen, Jugendliche begleiten, sich als Sterbebegleiter und Lesementoren engagieren – und erst durch Covid-19 zur Untätigkeit gezwungen wurden?

Auch in der Coronakrise erhebt sich Ludwig Hasler selbstgefällig über die Altersgenossen. Es gehe darum, «die Gesellschaft vor einem Schlamassel mit uns Risikopatienten zu verschonen», sagte er in einem Interview mit der Luzerner Zeitung. «Wie könnte der Staat das Leben fast allen anderen stilllegen, bloss damit ich jetzt nicht sterbe?» Wider alle Fakten behauptet er mit schöngeistiger Ignoranz, es müsse uns nicht gross wundern, «sähe Ende Jahr die Sterbe-Statistik verblüffend 'normal' aus». Schon heute zeigt sich, dass gemäss der sogenannten Übersterblichkeit mindestens 2000 Frauen und Männer an Covid-19 gestorben sind. Was wäre wohl, wenn der Bundesrat keine einschneidenden Massnahmen getroffen hätte?

Kein Platz auf der Intensivstation
Hätten wir dann in unseren Spitälern und Intensivstationen Verhältnisse wie in Italien und Spanien? Und bekämen Frauen und Männer, die älter sind als 85 Jahre, überhaupt eine Chance zu überleben? In den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften (SAMW) wird zwar in den Kriterien zur Triage auf Stufe A (Betten für Intensivpflege verfügbar, aber begrenzte Kapazitäten) festgehalten, das Alter sei «per se kein Kriterium, das zur Anwendung gelangen darf». Doch wenn keine Intensivpflegebetten mehr verfügbar sind (Stufe B), wird das Alter doch als Kriterium gewertet: Wer über 85 Jahre alt ist, würde dann abgewiesen. Es macht es nicht besser, dass gemäss einer Tamedia-Umfrage 58 Prozent der Befragten erklärten, es sei aus ethischer Sicht vertretbar, wenn im Falle einer Knappheit jüngere Patienten privilegiert behandelt würden.

Der Schweizerische Seniorenrat kritisiert diese Regelung. Das Alter dürfe bei der Zuteilung der Intensivpflegeplätzen überhaupt keine Rolle spielen. Entscheidend sei der Wille der Patientin oder des Patienten, wie er in der Patientenverfügung festgehalten sei. Auch für die Basler Rechtsprofessorin Christa Tobler bergen diese Richtlinien die Gefahr einer Altersdiskriminierung in sich. «Die Annahme, dass Menschen über 85 schlechtere Überlebenschancen haben, trifft für den Durchschnitt zu, aber nicht für alle», sagte sie gegenüber der Luzerner Zeitung. «Deshalb müsste jeder Patient unabhängig vom Alter beurteilt werden.» Alles andere, so lässt sich daraus schliessen, verletzt die Rechtsgleichheit, wie sie die Bundesverfassung vorsieht. - 6.5.2020

beat.buehlmann@luzern60plus.ch