Die Autobiografikerin

Von Toni Zwyssig (Text) und Joseph Schmidiger (Foto)

„Aus der Bahn geworfen. Über Männer, die ihr Leben verändern mussten.“ Was wie der Titel eines psychologischen Leitfadens tönt, ist das neuste Buch der Luzernerin Lucette Achermann. Die zwölf wahren Geschichten basieren auf Gesprächen, die sie mit Männern geführt und aufgeschrieben hat. Als Autobiografikerin hilft sie ihren Kunden, deren persönliche Geschichte als Autobiografie zu erzählen, zum Beispiel:

  • Thomas (62) Mein Alkoholismus ist wie eine Allergie.
    Das Stehaufmännchen
  • David (72) Vom Waisenhäusler zum Geschäftsmann.
    Im Schmutz geboren, im Streit aufgewachsen und trotzdem was geworden.
  • Jan (47) Ich kämpfe weiter – für meine Töchter.
    Der Missbrauchsbeschuldigte
  • Björn/Mara (59) Gefangen im falschen Körper.
    Die Geschlechtsumwandlung

Erzählen – Sprachen - Schreiben

Lucette Achermann wächst als Wirtstochter im Hotel Hirschen in Sursee auf. Ihr Vater stirbt als sie zehn Jahre alt ist. Die Mutter übernimmt – in einer Zeit noch ohne Frauenstimmrecht – drei Kinder und 25 Angestellte – der Vormund fordert vor allem „brav sein“. Am Hotelbetrieb hat die junge Lucette nur mässig Interesse. Leben und Mentalität in der vom Kalten Krieg geprägten Nachkriegszeit erlebt sie als beengend. Die Geschichten der Gäste aus aller Welt hingegen, das Sprachengewirr der Gastarbeiter im Hotel und die Erzählungen ihrer Grossmutter faszinieren und inspirieren sie. Als Primarschülerin verfasst sie regelmässig ein „Gassblatt“ für die Hirschengässler. Beim Aufräumen hat sie kürzlich „Teddy geht auf Weltreise“ wiederentdeckt – das erste von ihr geschriebene und bebilderte Büchlein in einer Auflage von 21 Exemplaren.

Für Lucette ist früh klar: Ihr zukünftiger Beruf muss etwas mit Schreiben zu tun haben. Nach einem Welschland-Aufenthalt besucht sie die Handelsschule und setzt sich so rasch wie möglich ins Ausland ab – England, Spanien, Kanada. Sie lernt Sprachen – Französisch, Englisch, Italienisch und Spanisch. Vor zehn Jahren kam Chinesisch dazu. Da werde sie wohl „die nächsten 20 Jahre Anfängerin bleiben“.

Sie heiratet mit 23 Jahren, hat zwei Töchter und wird demnächst zum zweiten Mal Grossmutter. Zehn Jahre arbeitet sie in der Konzernkommunikation bei Schindler, zuletzt als Verantwortliche für das Kundenmagazin. Dann dockt sie bei ricardo.ch an und stellt dort Kunst und Antiquitäten ins Netz. Texten bleibt ihr anderes Standbein. Sie pflegt einen riesigen Bekanntenkreis, ist unendlich neugierig, viel unterwegs und hat immer mehrere Projekte gleichzeitig am Laufen.

Beruf: Autobiografikerin

Zufällig entdeckt sie vor 15 Jahren die Berliner Firma „Rohnstock-Biografien“, die Nummer 1 im deutschsprachigen Raum für das professionelle Schreiben von Memoiren. Dort bildet sie sich zur Autobiografikerin aus und gründet die Filiale Schweiz von „Rohnstock-Biografien“. Seither hat Lucette 35 Schweizer Autobiografien verfasst mit Auflagen von 5 bis 5000 Exemplaren. Sie lässt sich von ihren Kunden deren Lebensgeschichte erzählen und verfasst ein Buch so, dass es den Eindruck erweckt, der Erzähler hätte es selbst geschrieben. Meist erscheint ihr Name nicht einmal im Buch. Sie muss ihre Kunden „öffnen“, sie zum Erzählen bringen, nachfragen und allenfalls korrigieren, wenn das Gedächtnis ihnen einen Streich spielt: Ein Minirock hat in den vierziger Jahren nichts verloren und ins Worldwide Web kann man erst nach 1990 eingestiegen sein.

Die Männerversteherin?

Das Wichtigste an ihrem Job sei das Zuhören, sagt Lucette Achermann. Die Geschichten in ihrem neuen Buch sind Selbstauskünfte von zwölf Männern, von ihr zuerst wörtlich ab Tonband aufgeschrieben, dann strukturiert und so bearbeitet, dass sie verständlich und so nahe wie möglich am je eigenen Ton der Erzähler sind. Die Personen sind anonymisiert, die Texte von den Interviewten zur Publikation freigegeben.

Lucette Achermann sagt: „Ich bin weder Therapeutin noch Männerversteherin.“ Es falle ihr aber auf, dass Männer beim Erzählen ihres Lebens oft auf die Darstellung ihrer Karriere fixiert sind. Ein Manager beispielsweise habe nach stundenlangem Schildern seiner 40-jährigen Berufslaufbahn erst auf ihr Nachfragen erwähnt, er habe auch noch eine Frau und vier Kinder, zwei davon behindert. Lucette Achermann: „Männer neigen dazu, ihre Brüche und Krisen mit sogenannt gesundem Menschenverstand oder Pseudopsychologie zu erklären. Frauen dagegen sind es sich eher gewohnt, Schicksalsschläge oder Ereignisse aus der Familiengeschichte über das Erzählen zu verarbeiten.“

Dieses Muster scheine sich aber aufzuweichen. Dramatische Situationen befördern offensichtlich die Selbsterkenntnis. Achermann: „Männer, vor allem der mittleren Generation, sind heute offener und zugänglicher. Sie verstehen es nicht mehr als Makel, über Schwächen, Trauer und Niederlagen zu sprechen. Männer, die beim Erzählen ihrer Lebensgeschichte irgendwann auch weinen, sind schon fast der Normalfall.“

Lucette Achermann / Katrin Rohnstock: Aus der Bahn geworfen. Über Männer, die ihr Leben verändern mussten. Orell Füssli 2016. 255 S., Fr. 24.50.